Mitten in dieser fast totalen Bewegungslosigkeit fand die Party zur Feier seiner » Freedom Poems« im Peace Eye Bookstore statt. Dank einer Spende von Johnny Ray Slage, der durch einen Vorschuss für sein in L.A. aufgenommenes Album reichlich Geld zur Verfügung hatte, gab es große Stapel seines sehr kunstvoll gedruckten Buches. Mit losen Schnürsenkeln und reichlich benommen tauchte ein verlegen blickender Talbot auf, der kopfschüttelnd zurückzuckte, als sie ihm beim Hereinkommen applaudierten.
Er verspürte einen Anflug von Angst, als er vor Beginn seiner Lesung einen kurzen Blick auf das Publikum warf. Was er sah, war wie ein Hogarth-Druck seiner gegenwärtigen anarcho-erotischen Misere. In Frühjahr des Jahres ’68 hatte er ein bisschen zu viel herumgebumst und sich auf das Säuseln von verhätschelnden, beruhigenden Worten verlassen und jetzt war sein Liebesleben verkorkst. Alle drei der Wilden Frauen aus der Zehnten Straße — Debbie Harnigan, Enid Baumbach und May Heath, waren in unterschiedlichen Graden von Besessenheit und Konkurrenzkampf in ihn verliebt, und sie waren alle gekommen, um ihren Mann im Peace Eye zu sehen. Ebenso in der ersten Reihe saß Cynthia Pruitt mit leuchtenden Augen und rosa Gesicht, seine Catholic Worker -Flamme, die ihn gern in ihrem Bett aufwachen sehen wollte. Seine Mutter hatte ihn dazu gebracht, die erste Sopranistin ihres Kirchenchors zu treffen, und beide warfen im Peace Eye strenge von Religiosität und Missbilligung erfüllte Blicke auf die Wilden Frauen. Seine langjährige Freundin Rose Snyder war die einzige, die fehlte. Er sah Rose ungefähr einmal im Monat, aber nun war sie sehr krank und hatte gerade ihren vierundsiebzigsten Geburtstag im Krankenhaus gefeiert. Talbot schaute nach Roses Katze und goss die Blumen in dem Appartment ihrer Kindheit, das sie für fünfzig Jahre verlassen hatte, um sich der Arbeit in der Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegung zu widmen.
Seine Freunde und Unterstützer waren so zahlreich erschienen, dass Bücherregale beiseite geräumt werden mussten. Diejenigen, die wegen der Jahre der stillen, unermüdlichen Empörung, die in seinen bemerkenswert erzählten »Freedom Poems« explodierte, zu ihm aufschauten, applaudierten ihm zu jedem seiner Worte. Genau in diesem Moment, als er in dieser Nacht im Peace Eye stand und große Beifallsbekundungen erhielt, dachte er, »Ich bin ein Nichts. Völlig bedeutungslos. Eine Null.«
Er endete mit dem berühmtesten seiner Gedichte, jenes, das seinen Hass auf Ethrom Slage, den Klan-Führer, der ihm mit einem Bleirohr während eines Freedom Rides die Beine so massiv verletzt hatte, dass seine Karriere als Fullback im College beendet war. Es erzählte auch davon, wie Talbot und Sam Thomas Ethroms Sohn Johnny Ray halfen, dem Klan zu entfliehen und zur Lower East Side zu kommen. Johnnys tatsächliche Identität war in dem Gedicht verschleiert, jetzt, wo er ein angehender Star war, wollte er nicht, dass man in der Rock ’n’ Roll-Presse darüber schreibt.
Talbot weinte zum Ende des Gedichts, krempelte sein Hosenbein hoch, zeigte die Narben an seinen Beinen und steigerte seine Stimme zu den letzten Zeilen.
Er tat mir das an!
Er ruinierte mein Leben.
Er schlug auf mich ein im Todes-Bus!
Er zerschlug meine Träume!
Seine Freunde weinten auch und bewegten sich wie eine wogende Masse in einer Kundgebung.
Aber der Tag wird kommen für die totale Befreiung
von Hass und Ausgrenzung
Totale Befreiung, totale Befreiung
eine große Nation wird es ermöglichen
nichts wird es aufhalten können
Totale Befreiung, totale Befreiung
Der Raum nahm seinen Gesang mit ihm auf, »Totale, totale, totale Befreiung ...«. Talbot stand mit gesenktem Kopf in dem überwältigenden Beifall und dachte, was immer auch in seinem Leben passiert, die Wandlung eines Klankindes würde ihm Kraft geben.
Der Abgeordnete Plank hatte Talbot während der Lesung sorgsam beobachtet und ging dann mit ihm zu Stanley’s Bar, wo Talbot sich alles von der Seele sprach — seine Verwirrtheit, seine Depression, seine Armut, sein verpfuschtes Liebesleben, sein heilloses Sich-Ausgelaugt-Fühlen zu Zeiten seiner Schnorrerei.
Plank, der seine Karriere als ein Organisator für die Kommunisten in der Bekleidungsindustrie begonnen hatte, war fünfunddreißig Jahre später eine Größe innerhalb der New York City-Demokraten. Seine politischen Ziele hatten sich weiterentwickelt und ähnelten nun, sagen wir mal, denen der schwedischen Sozialdemokraten. Seine Vision war eine Wirtschaft, in der sich ungefähr fünfzig Prozent der Unternehmen in privater Hand befänden und fünfzig Prozent Schlüsselindustrie treuhänderisch vom Staat für das Volk geführt würde. Plank lieh sich Stanleys Telefon und fand dank seiner politischen Beziehungen einen zeitlich begrenzten Job für Talbot im Jugend-Mobilisierungs-Büro in der Avenue A.
Als er versucht, Talbot in dieser Nacht in einer Bar voller Künstler und Aktivisten aufzumuntern, hatte Plank eine Idee, die auf der Begeisterung von Talbots Freunden und Unterstützern während der Lesung im Peace Eye beruhte. Du hättest die Gesichter im Buchladen sehen sollen. Ich denke, du solltest kandidieren. Eines Tages könntest du es bis Washington schaffen, oder du könntest der erste schwarze Bürgermeister sein.«
Talbot war nicht beeindruckt.
»Ich scherze nicht«, fuhr der Abgeordnete fort. »Das ist dein Moment.«
Wo vom richtigen Augenblick die Rede ist, genau in diesem Moment spürte Talbot wieder die von dem Schlag mit dem Bleirohr herrührenden, chronischen Schmerzen in seinem Knie, und er wurde daran erinnert, wie sehr er Ethrom Slage, das Klanmitglied, hasste, der wie besessen den Bus in Alabama gestürmt und mit dem Rohr auf ihn eingeschlagen hatte. Er rieb sein Knie unter dem Tisch und dachte an verpasste Gelegenheiten.
»Weißt du, Talbot, du kannst es wirklich schaffen. Lass dich zur Wahl aufstellen.«
»Mein Knie schmerzt an der Stelle, wo das Arschloch mich in Birmingham getroffen hat.«
»Eines Tages wirst du dieses Bleirohr als Türstopper in Washington benutzen«, erwiderte Plank.
Talbot ging nach Hause und dachte darüber nach. Aber zuerst einmal musste er seine Depression abschütteln. Er flüchtete sich in die Welt der Sportereignisse von 1968, die Baseball-Spielergebnisse, Geschichten über die kommende Football-Saison, die 68er Ausscheidungswettbewerbe im Schwimmen.
Er versuchte zu joggen, um wieder fit zu werden. Niemand lief während des My Lai-Jahres, höchstens jemand, der vor einem Dope - Entzug floh. In seinen tiefausgeschnittenen Carolina Tech- Stollenschuhen trottete er um den Tompkins Square Park herum, in genau jenen Schuhen, die ihn zur NFL getragen hatten, bevor die Geschichte mit Slages Bleirohr passierte. Früher hätte Sam Thomas sich ihm angeschlossen, der mit seinen Nebraska Highschool -Turnschuhen, die mit Horus-Augen verziert waren, prächtig aussah. Talbot vermisste Sam, der jetzt mit seiner Freundin Annie Maketorch in einer Kommune in Kansas lebte. Er hatte gehört, dass sie schwanger war.
»Unordnung, Fäulnis, Herumwandern und Chaos machen meine alte Gang kaputt«, sang Talbot der Große, als er die Schnürsenkel seiner Turnschuhe festzurrte. Er hatte vor langer Zeit gelernt, dass der Versuch, bei den ungezählten Lower East Side Einbrüchen, Trennungen, Auflösungen, Einzügen, Auszügen und Umzügen auf dem Laufenden zu bleiben, dem Schütteln eines Kaleidoskops mit farbigen Perlen auf einem Acid - Trip gleichkam.
Eines Morgens ließ das Klicken seiner Stollenschuhe auf dem Tompkins Park-Bürgersteigs wie Schwingungen eine Idee in seiner Birne entstehen. Warum auf die Politik warten? Er dachte an Onkel Thrills berühmten Gesang »ImGrat ImGrat ImGrat.«
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