Frederik Hetmann
WOHIN DIE FLÜSSE FLIESSEN
Geschichten aus der Neuen Welt von St.Louis bis San Francisco
Mit Bildern von Günther Stiller
FUEGO
- Über dieses Buch -
Das große Thema des amerikanischen Westens ist die Begegnung des Menschen mit einer ebenso grandiosen wie übermächtigen Natur und das aufeinander prallen zweier Kulturen: der naturverbundenden, magischen Welt der Indiander mit der durch Eroberungsdrang und missionarisches Sendungsbewusstsein geprägten Zivilisation der Weißen.
Frederik Hetmann erschließt mit dieser neuen, in sich vollständigen Geschichtensammlung, die inhaltlich an das Buch »Wohin der Wind weht« anknüft, ein weiteres unbekanntes Gebiet auf der Landkarte der Phantasie.
In Augenzeugenberichten, Lebensläufen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen erzählt er von den ersten Europäern, die durch die Prärien, Wüsten und Felsengebirge nach Westen zogen, Leiden und Strapazen von Glücksrittern, Trappern, Scouts und Siedlern. Im Kontrast dazu stehen die seelenvollen Mythen, Märchen, Sagen und Lieder der Indianderstämme zwischen Missouri und Rio Grande, die der Autor in diesem Buch zusammengetragen hat. So entfaltet sich hier ein prächtiges Mosaik lebendigen Erzählgutes neben Geschichten und Liedern voller Empfindsamkeit und zeitloser Schönheit aus der amerikanischen Pionierzeit mit eindrucksvollen Grafiken von Günther Stiller.
Der vorangegangende Band mit dem Titel »Wohin der Wind weht« enthält die Folklore des Ostens uns Südens der USA: Lieder, Märchen, Legenden und Sagen, wie man sie zwischen Boston und New Orleans sang und erzählte; Hexen- und Teufelsgeschichten der Puritaner, Berichte und Familienfehden, Protestgeschichten und biblische Stoffe der Schwarzen in Amerika. Frederik Hetmann fügt das packende und handfeste Erzählgut der Pionierzeit hier zu einem lebendigen Hausbuch zusammen, das für jugendliche und erwachsene Leser interessant ist: eine poetische Collage der USA, eindrucksvoll illustriert von dem vielfach ausgezeichneten Buchgrafiker Günther Stiller.
In einer Höhle in einem engen Canyon nahe Tessajara
ist die Felskammer mit Händen bemalt,
eine Vielzahl von Händen im Zwielicht, eine Wolke
menschlicher Handflächen,
nichts mehr,
kein anderes Bild. Und keiner, der uns sagt,
ob die braunen, scheuen, stillen Menschen, die tot sind,
damit Religion oder Magie bezweckten
oder absichtslose Hervorbringungen von Kunst; aber
über den Abstand der Zeit hin
sind diese sorgfältig
gezeichneten Hände wie eine versiegelte Botschaft,
die besagt: Seht, wir waren auch
menschliche Wesen, wir hatten Hände, nicht
Pfoten. Glück auf den Weg,
ihr Volk mit geschickteren Händen,
ihr, die ihr uns ablöst in diesem Land,
erfreut euch seiner Jahreszeiten, seiner Schönheit,
bis ihr selbst abgelöst werdet durch andere,
denn ihr seid menschlich.
Robinson Jeffers
Für David con un abrazo
Gebt mir Stille, Wasser, Hoffnung,
Gebt mir Kampf, Eisen, Vulkane ...
Pablo Neruda
Buffalo Bill ist hin
der zu reiten pflegte
auf einem wasserglatt-silbernen Hengst
und runterholte einzweidreivierfünf Taubenebenmalso
Herrje
wie gefällt dir dein blauäugiger Knabe, Mister Tod.
E. E. Cummings
Die Kaninchen sind hier so groß wie Hasen und haben die Ohren eines Esels, die Frösche haben den Körper einer Kröte und den Schwanz einer Eidechse. Die Bäume fallen bergauf, und der Blitz zuckt aus dem Erdboden hervor.
Socrates Hyacinth
Stimme oben,
Stimme des Donners,
spricht aus dem Dunkel
der Wolke;
Stimme unten,
Grashüpfers Stimme,
spricht von dem
Grün der Pflanzen.
So möge die Erde
schön sein für euch.
Scott Momaday
Lasst sehen, ist dies wirklich,
Lasst sehen, ist dies wirklich,
Lasst sehen, ist dies wirklich,
ist dieses Leben wirklich,
das ich lebe?
Ihr Götter, die ihr überall wohnt,
Lasst sehen, ist all dies wirklich.
Lied der Pawnee, Überprüfung einer Vision
Ein Buch zu zeigen, dass es einen anderen Westen gibt. Einen Westen, der anderes war als nur Spielwiese menschlicher Aggressionen, Platz für Ellbogenfreiheit, einen Westen, der anderes war als Kulisse für Männer überlebensgroß, schießwütig, blauäugig.
Ich will gern zugeben, dass ich selbst lange Zeit von dem Mythos, dessen Strahlkraft beträchtlich ist, getäuscht worden bin. Ich hatte mir eingebildet, man brauche der verfälschten, der auf Märchen geschminkten Wirklichkeit nur die tatsächliche Wirklichkeit entgegenzusetzen und alles sei wieder im Lot.
In dieser Vorstellung befangen, habe ich eine ganze Anzahl von Büchern über den Wilden Westen der USA geschrieben, von der guten alten unverwüstlichen Amerika Saga über Sheriffs, Räuber, Texas Rangers und Cowboys, Rinder, Schienenstrang bis hin zu einer Sammlung von Texten von und über Viehtreiber, Im Sattel der Cowboys. Diese Bücher haben bei aller thematischen Verschiedenheit doch eines gemeinsam: sie versuchen, den Westen authentisch zu präsentieren. Der Leser soll erfahren, »wie es wirklich war«, nachdem ihm hundertfach in der Trivialliteratur, im Film und im Fernsehen die Facetten der Illusion vorgeführt worden sind.
Ich halte heute diesen Ansatz für falsch.
Was ist damit gewonnen, dass der Leser erfährt, die Herren Revolverschützen seien nur noch etwas schmutziger, schießwütiger und im Aussehen unattraktiver gewesen, als sie uns im Film oder bei Karl May vorgestellt werden? Der Mythos bleibt, und letztlich trägt so auch ein Buch, das mit authentischem Material arbeitet, zur Konservierung und Verinnerlichung dieses Mythos bei.
Nun kann jemand aber auch fragen: Was ist schon dabei? Befriedigen Wildwestgeschichten letztlich nicht nur ein Bedürfnis nach Illusionen, das sich zwangsläufig in einer Umwelt monotoner Arbeitsabläufe und zu einem Höchstmaß gesteigerten zivilisatorischen Komforts ergibt, sind sie nicht für uns, was die Rittergeschichten für den armen Don Quijote waren?
Weil wir sozialversichert, air-conditioned und zentralgeheizt (wie lange noch?) leben, delektieren wir uns, im Sessel zurückgelehnt, an Strapazen, Gefahren und harten Lebensbedingungen, die nicht die unsrigen sind, und erleben bei allem Schauder über das Leben und Treiben damals auch noch die stolze Genugtuung, wie herrlich weit wir es doch gebracht haben.
Ganz ähnlich scheint mir die Wildwestgeschichte der Groschenromane und der durchschnittliche Wildwestfilm einen Spielraum zum Ausleben unserer sonst nicht abzuführenden Aggressionen zu bieten.
Nun sollten aber Kunstprodukte, wenn sie als solche ernst genommen werden wollen, nicht lediglich zur Ersatzbefriedigung dienen, sondern wenigstens versuchen, kritisch auf das bewusstsein ihrer Zeit zu reagieren und – sei es als Utopie – neue Möglichkeiten des Reagierens auf das jeweilige Thema vorzuweisen. In einer Zeit, die so sehr wie die unsrige von Aggressionen bedroht ist, lassen sich aggressive Methoden auch nicht länger als harmlos belächeln.
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