Als sie später am Abend bei Russell zu Hause saßen, redeten sie über das Musikgeschäft und tauschten Erfahrungen aus. Leon erzählte von seinem Geheimrezept bei Halsproblemen, und bis zum heutigen Tag verwendet Elton bei rauer Kehle stets Leons stimmbandschmeichelndes Geheimgebräu.
Auch Jimmy Greenspoon kam zu einem der Konzerte, die Elton in jener Woche im Troubadour gab, und war schlicht „überwältigt“ von dem Auftritt: „Ich hatte für den Abend eine Limo gemietet, denn ich wollte mich nach echter Rock’n’Roll-Manier so richtig bis zur Halskrause abfüllen und nicht mehr selbst fahren. Dann suchte ich mir einen Platz hinten in der Mitte des Zuschauerraums, sodass ich alles gut hören konnte. Elton kam auf die Bühne, und das Publikum brüllte wie aus einem Mund: ‚Woah!‘ Die Probleme, die er später gelegentlich mit der perfekten Umsetzung der ganzen Showelemente hatte, gab es noch nicht, weil alles noch sehr auf Sparflamme arrangiert war. Da stand dieser kleine, ungelenke Kerl, der noch ein halbes Jahr zuvor Klinken geputzt hatte, um seine Kompositionen an den Mann zu bringen, und haute einen phänomenalen Song nach dem anderen raus. An dem Abend war sich der ganze Laden einig: Ein echter neuer Star stand vor uns! Die Musik überzeugte total. Und wenn er mit dem Klavier ganz allein auf der Bühne gewesen wäre, es wäre trotzdem etwas ganz Besonderes gewesen. Wenn man die Augen zumachte, sah man die Geschichten, von denen er sang, wie einen Film vor sich ablaufen.“(48)
Es gab keinen Zweifel: Elton John hatte Los Angeles im Sturm erobert. Voller Stolz sagte er über diese Woche, in der seine Karriere den entscheidenden Schub bekam: „Wir brachten vom ersten Augenblick an echten Rock’n’Roll. Zwar waren wir ja schon immer eine Rockband gewesen, aber die Leute waren absolut überrascht. Wir spielten Songs wie ‚Sixty Years On‘ oder ‚The King Must Die‘, und zwar noch besser als auf Platte.“(49)
Trotz seines kindischen Wutausbruchs am Abend vor dem ersten Troubadour-Auftritt war der ganze Trip nach Los Angeles ein großer Erfolg geworden. Selbst Elton musste zugeben: „Von dem Augenblick unserer Ankunft an ging alles drunter und drüber. Der erste Auftritt im Troubadour bekam natürlich eine völlig überzogene Bedeutung, weil die Leute von der Plattenfirma und der Presse da waren, aber die Show an sich war absolut unglaublich, und das ging so weiter. Wir bekamen unglaubliche Kritiken – ich habe nicht eine schlechte gesehen.“(50)
Abgesehen davon, dass er sich endlich in die Umlaufbahn hineinkatapultiert hatte, in der die echten Stars ihre Kreise zogen, gab es während dieses Aufenthalts in Los Angeles für Elton ein weiteres Highlight – das Plattengeschäft Tower Records am Sunset Boulevard, ein riesiger Vinyl-Supermarkt. Für ihn als besessenen Plattensammler und Musikfan war es das ultimative Einkaufserlebnis.
Nach der phänomenal erfolgreichen Woche im Troubadour gab Elton auf seiner Minitournee durch die USA noch ein paar Konzerte. Als nächstes trat er in San Francisco auf, wo Doug Weston einen Ableger des Troubadour in der Bay Area betrieb. Da er dem jungen Briten nur schlappe 500 Dollar für die eine Woche in L.A. gezahlt hatte, zeigte sich Weston großzügig und erhöhte die Gage für die Woche in San Francisco auf 750 Dollar. Russ Regan brachte MCA/UNI Records dazu, noch ein bisschen mehr in die gute Sache zu investieren und die Kosten der Tour zu übernehmen.
Für die Auftritte in San Francisco baute Elton nach und nach immer mehr Rocksongs in sein Programm ein, da sie beim Publikum offensichtlich sehr gut ankamen. Er spielte unter anderem „Honky Tonk Women“ von den Rolling Stones, das eine ganze Weile einen festen Platz in seinen Livekonzerten behielt.
Zu den bemerkenswertesten Gästen, die bei Eltons Gigs in San Francisco auftauchten, zählte ein alter Bekannter aus London – der Chef des dortigen Tamla Motown-Büros, John Reid. Es war reiner Zufall, dass er ausgerechnet in dieser Woche geschäftlich in der Stadt war. Reid berichtete später: „Motown gab im August 1970 anlässlich des zehnten Geschäftsjubiläums ein großes Fest in San Francisco. Ich war inzwischen recht gut mit [dem stellvertretenden Motown-Geschäftsführer] Barney Ales und seiner Frau Mitzi befreundet. Ich bin ja aus Schottland, und Barney sagte, dass ich nur dann zu der Veranstaltung kommen dürfte, wenn ich einen Kilt trüge. Es war eine phantastische Feier, unglaublich ausgefallen und luxuriös. Sie fand auf dieser Insel mitten in der Bucht von San Francisco statt. Dort gab es auch ein Casino, und alle bekamen Geld, um dort zu spielen. Außerdem erhielt jeder Gast ein Paar Duellpistolen.“(51)
John Reid kam nicht nur zu Eltons Konzerten in San Francisco, er war auch der erste Mann, mit dem Elton je ins Bett ging. Das Jahr 1970 schien für den Sänger zum Schicksalsjahr zu werden: Nicht nur seine Karriere kam entscheidend voran, er entdeckte auch den Sex mit Männern. Frauen seines eigenen Alters waren für ihn nie interessant gewesen, jedenfalls nicht in sexueller Hinsicht, obwohl er immer wieder halbherzige Versuche unternahm, ihnen gegenüber charmant zu sein. Diese eine Nacht in San Francisco änderte alles. Innerhalb der nächsten Wochen wurde John Reid zu einem der wichtigsten Männer in seinem Leben. Als beide wieder nach London zurückgekehrt waren, übernahm Reid nicht nur das Management von Eltons Karriere, sondern zog auch mit ihm zusammen.
Es passte gut, dass sich für Elton zu dieser Zeit die Beziehung mit John Reid ergab, schließlich hatte Bernie Taupin sich auf dieser ersten Amerika-Tournee ebenfalls verliebt. Für Elton war das Erwachen seiner schwulen Sexualität längst überfällig: „Ich war etwa 23 Jahre alt. Und es war wie ein Vulkanausbruch. Alles drängte aus mir heraus, es war eine unglaubliche Erleichterung.“(52)
Von San Francisco aus reisten Elton und sein Tross nach New York, wo ein spezielles Showcase für die Manager von MCA/UNI Records geplant war. Leider war der Auftritt in Manhattan, verglichen mit den triumphalen Konzerten in Los Angeles und San Francisco, ein ziemliches Durcheinander. Die Show war Teil eines privaten Mittagessens für die Presse, das im Playboy Club im Stadtzentrum stattfand. Eric Van Lustbader schrieb in der Zeitschrift Record World: „Zwei weitere neue Acts standen auf dem Programm, aber da es ein normaler Werktag war, verabschiedeten sich viele der Journalisten schon, bevor sie auf die Bühne kamen. Der Sound war so schlecht, dass Elton anschließend völlig außer sich war und Tränen in den Augen hatte.“(53) Diese desaströse Pressevorführung war allerdings angesichts der großartigen Erlebnisse, die noch folgten, schnell vergessen.
In New York City übernachteten Elton und seine Truppe in einem Hotel auf der Eighth Avenue, das Loew’s Midtown hieß. Elton und Bernie wollten nach Harlem zum berühmten Apollo Theater in der 125th Street fahren, um den legendären Tempel amerikanischer Soulmusik zumindest einmal von außen gesehen zu haben. Sie mussten drei Taxifahrer anhalten, bis einer überhaupt bereit war, nach Harlem hineinzufahren. Dort standen die beiden ehrfürchtig vor dem Gebäude und kehrten dann in ihre etwas abgerissene Unterkunft in der Nähe des Times Square zurück. Sie hatten gehört, dass New York eine gefährliche Stadt war, und bekamen das prompt bestätigt, als am Abend eine Schießerei am Times Square ausbrach.
Die nächste Station dieser entscheidenden Tour war Philadelphia, wo Elton als Headliner in der Electric Factory spielte. Zwar bescherte ihm diese Tour tatsächlich den großen Durchbruch als Star, aber UNI Records musste dafür auch ziemlich tief in die Tasche greifen. Russ Regan erinnerte sich an zahlreiche Diskussionen mit dem Label über die Kosten. „Ich musste mich wegen vieler Dinge rechtfertigen“, sagte er, „und man sagte mir, dass ich nicht so viel hätte ausgeben sollen, dass ich viel zu viel Geld für den Künstler bereitstellte, und ehrlich gesagt, mir ging das ganz schön auf die Nerven. In Philadelphia bekam ich dann einen Anruf vom Controller der Firma. Er sagte mir, dass man im Unternehmen schon von ‚Regans Privatvergnügen‘ sprach, weil ich so viel aus dem Promotionetat für einen Künstler aufwendete, der nichts verkaufte. Und das stimmte ja auch, noch verkaufte er keine Millionen Singles oder Alben. Wenn ich je kurz vor einem Herzinfarkt gestanden habe, dann war das damals im Holiday Inn in Philadelphia – es gibt Zeugen dafür, wie ich den Typen am Telefon anbrüllte, er könne mich mal. Ich hatte das Gefühl, einen Superstar am Start zu haben, und ich hatte nicht die Absicht, meine Pläne mit ihm aufzugeben.“(54) Es war Glück für Elton, dass Russ Regan für das kämpfte, woran er glaubte – an Eltons Talent und an die große Karriere, die ihm bevorstand.
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