Mein Dad war sehr nett, ein richtig guter Vater und all das. Alles, was er – so wie viele andere Veteranen – nach dem Krieg wollte, war, eine Familie zu gründen, fleißig zu arbeiten, Geld zu verdienen und ein nettes Häuschen mit gutem Essen auf dem Tisch zu besitzen. Dad war kein Mann vieler Worte und teilte mir nur kurz und knapp mit, was er gerade durchmachte: „Ich verstehe nicht, was da vor sich geht.“ Es war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen – und nun war er völlig perplex.
Vielleicht dachte er, dass sich die Wellen schon wieder glätten würden und sie zurückkehren würde. Aber dem war nicht so und sie kam nie wieder nachhause, weil sie sich erdrückt und eingeengt fühlte. Vielleicht wurde sie sich ja auch zunehmend der gesellschaftlichen Transformation und der seismischen kulturellen Verschiebungen bewusst, die in den Sechzigerjahren vor sich gingen. Mein Dad und Leute wie er waren in puncto Kleidung, Konformität und Klassenbewusstsein in den Fünfzigerjahren verankert. Mir wurde erst später klar, dass meine Mutter sich über diese Grenzen hinweggesetzt hatte. Das verdreifachte und vervierfachte sich exponentiell.
Letzten Endes wurde sie eine Lehrerin für Schüler mit besonderen Ansprüchen und unterrichtete mit großer Leidenschaft autistische Kinder. Meine Mutter war ein Freigeist, ein Original und eine Inspiration für die Kinder, die sie als Lehrerin betreute.
Als Mum uns verließ, stürzte sich mein Vater in seine Arbeit als Buchhalter. Er war immer noch ein liebevoller Vater, aber er hatte keine Ahnung, wie er auf mich achtgeben, mich disziplinieren oder einfach nur mit mir sprechen sollte. Und da mein Bruder John fort und an der Uni war, wurde ich zunehmend unabhängiger und unberechenbarer. Auf eine gewisse Art und Weise machte mich das sehr widerstandsfähig. Ich begriff, dass man im Leben die Dinge selbst in die Hand nehmen musste.
Da ich nun mittlerweile Gitarre spielte, ließ ich meine Gefühle und Energie noch mehr in die Musik einfließen. Es ist tröstlich, wenn man ein Instrument spielen kann. Das Schlafzimmer ist nicht länger einsam, wenn es zu einem Ort wird, an dem die Phantasie erblüht. Mein Zimmer wurde zur Bühne, zur TV-Show, zum Aufnahmestudio. Einfach zu allem, was ich wollte. Ich posierte mit meiner Gitarre vor dem Spiegel und stellte mir vor, der nächste große Sänger zu sein.
Interessanterweise sah ich mich nicht als Teil einer Band, sondern als Troubadour, als Leonard Cohen, Ralph McTell, Donovan oder Bob Dylan. Und in meinem Tagtraum gab es auch keine kreischenden Girls. Die lauschten vielmehr aufmerksam meinen eloquenten Texten. Das einzige Problem war, dass ich noch gar keine Songs geschrieben hatte. Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis ich das tat.
Irgendwann begriff ich, dass meine Gitarre beinahe nicht spielbar war, da sich die Saiten so weit über dem Hals befanden, dass man sie kaum niederdrücken konnte. Jeden Abend tunkte ich meine Fingerspitzen in Essig, wie mir das gesagt worden war, um sie auf diese Weise aufzurauen. Eines Tages erklärte mir einer der Freunde meines Bruders, dass die Erfüllung meiner musikalischen Ambitionen um einiges erleichtert würde, wenn ich auf einer Gitarre spielte, die dies auch tatsächlich zuließe. Ich tauschte also meine Gitarre, spielte auf ein paar geborgten und benutzte etliche Second-Hand-Exemplare. Dann schließlich hatte ich eine Akustikgitarre von Eko, von der ich nicht mehr weiß, woher sie stammte. Ich weiß nur noch, dass ich ununterbrochen „Chimes Of Freedom“ von Bob Dylan auf ihr klampfte, den Text dazu auswendig lernte und mir beibrachte zu spielen, ohne dabei auf meine Finger zu schauen. Bevor mein Bruder auf die Universität ging, verbrachten wir Stunden damit, Dylans Lieder auf dem Plattenteller laufen zu lassen. Ständig hielten wir sie an, um die Textzeilen niederschreiben zu können.
Als ich 14 war, gab es keinen Ort, an dem ich Pop- oder Rockgruppen hätte sehen können. Allerdings gab es von der Kirche organisierte Jugendclubs und es hieß, dass eine Band in der St. Gabriel’s Church Hall auftreten würde. Ich wollte unbedingt hin und ein Schulfreund begleitete mich. Das war das erste Mal, dass ich eine Band live sah – und auch mein erster Kontakt mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Die Mum meines Freundes war Ärztin und als er mich von zu Hause abholte, um zum Konzert zu gehen, sagte er, er hätte etwas dabei, das uns eine gute Zeit garantieren würde. Er zog ein paar Pillen aus seiner Hosentasche und sagte: „Schluck zwei davon.“ Dann teilten wir uns noch eine Flasche Bulmers Cider, ein alkoholisches Getränk. Wir kippten sie schnell in uns rein, sprangen dann eine Minute lang auf und ab und machten uns auf den Weg zur St. Gabriel’s Church Hall.
Ich kann mich nur noch an wenig erinnern, etwa an das Badezimmer des Vikars und wie er meine stark in Mitleidenschaft gezogenen Samthosen flickte. Als Nächstes erwachte ich dann während einer Kinovorführung des Films Alfie im Odeon-Kino. Jedenfalls bekam ich die Band erst gar nicht zu Gesicht und hatte ein Gefühl, als ob es mir egal gewesen wäre, wenn mir jemand ins Gesicht geschlagen hätte. Irgendwie schaffte ich es zurück nachhause und schlief die nächsten 18 Stunden durch. Was ich da so gierig verschlungen hatte, war Mandrax – auch als Quaaludes bekannt. Kein sehr zu empfehlendes Mittel, wenn man ausgehen und sich vergnügen möchte.
David Gibson lebte zwei Häuser weiter und war so alt wie mein Bruder. Auch er spielte gerne auf der Gitarre, einer zwölfsaitigen, was ihm sein Vater, Len Gibson, beigebracht hatte. Ich mochte David und besuchte ihn, wann immer er zu Hause war.
Len war während des Kriegs im berüchtigten Bantu-Gefangenenlager inhaftiert gewesen. Dort wurden Kriegsgefangene regelmäßig gefoltert und zu Sklavenarbeit gezwungen, etwa zum Bau der Thailand-Burma-Eisenbahn und der infamen Straße von Mergui, die von Hand Meter für Meter in den Dschungel und durch den Fels getrieben wurde. Nur wenige überlebten und Len war einer von ihnen. Während seiner Gefangenschaft entdeckte Len beim Küchengebäude eine Holzkiste, die er eines Nachts verstohlen in seinen Besitz brachte. In der Zeit darauf stellte er sein Talent als Instrumentenbauer unter Beweis, indem er die Kiste zu einer einfachen Gitarre umbaute. Für die Saiten stibitzte er Telegrafendrähte, von denen er wusste, dass sie aus Stahl und mit Kupfer ummantelt waren, denn er war ein Signalgeber bei der 125. Er drehte in mühsamer Kleinarbeit das Kupfer um den Stahl für die tieferen Saiten und dehnte den Draht für die höheren Töne. Den Öffner von einer Konservenbüchse benutzte er dazu, um Löcher für die Stimmwirbel zu schnitzen. Das einzige Problem, das Len nun hatte, bestand darin, dass er gar nicht wusste, wie man Gitarre spielte. Allerdings konnte er ein bisschen Banjo spielen.
Eines Tages sagte er zu mir: „Du spielst gerne Gitarre, Junge, oder etwa nicht?“
Ich bejahte.
„Dann sieh her.“ Er spielte mir auf seiner Gitarre vor und sang dazu. Ich war hin und weg, da es wie eine Memphis-Blues-Schallplatte klang. Ich begriff, dass das damit zu tun hatte, wie die Gitarre gestimmt war. Jahre später, als ich einen Film über den Blues drehte, dämmerte es mir schließlich, dass auch die Instrumente dieser Musiker bloß aus ein paar Stücken Holz und Drähten bestanden hatten. Lange Zeit spielte ich so wie Len auf eigentümlich gestimmten Gitarren. Bis mir schließlich ein weiterer Freund meines Bruders, John Graham, zeigte, wie man eine Gitarre „normal“ stimmte. Auch brachte er mir ein paar Akkorde bei, die mir alle am Anfang sehr seltsam vorkamen. Doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Ich lernte mit den Fingern zu zupfen, indem ich Mississippi John Hurt exakt nachahmte. Alles, was er spielte, saugte ich wie ein Schwamm in mich auf. Ich verbrachte täglich Stunden damit, zu spielen und zu lernen. Damals war ich 14 Jahre alt und hatte nicht viele Freunde, allerdings lernte ich zu dieser Zeit einen Typen namens Richard Allison kennen, der ein enger Freund werden sollte. Er besaß eine alte Gitarre und wusste, wie man die Noten in die Länge zog – wie beim Blues eben. So wie Eric Clapton oder Buddy Guy war auch er ganz anders als alle anderen, die ich jemals in Sunderland spielen gehört hatte. Richards Spiel faszinierte mich einfach.
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