Gegen Ende des Buches wird erwähnt, dass unter den jamaikanischen Rasta-Brothers der Verdacht weitverbreitet war, dass während der siebziger Jahre und Anfang der 1980er Jahre die Central Intelligence Agency (CIA) ihre Aktivitäten allgemein und die Karriere Bob Marleys im Besonderen überwachte. Unter Inanspruchnahme des Gesetzes über Informationsfreiheit (Freedom of Information Act, 5 U.S.C. 552) fand ich 1982 CIA-Dokumente, die bestätigten, dass der Geheimdienst und andere Regierungsbehörden der USA tatsächlich Akten über die jamaikanische Reggae-Szene, die Bewegung des Rastafarianismus und die Aktivitäten von Bob Marley angelegt hatten.
Für die erweiterte und ergänzte Ausgabe von 1991 habe ich nicht nur zusätzliche Fakten gesammelt, Feldforschung betrieben und Notizen gemacht, sondern über den Zeitraum von neun Jahren hinweg auch eine Vielzahl nachträglicher Interviews erstellt, die hin und wieder lange kolportierte Fehleinschätzungen korrigieren. So wurde in den letzten beiden Jahrzenten beispielsweise oft geschrieben, Rod Stewart habe auf dem Ska-Klassiker ›My Boy Lollipop‹ die Mundharmonika gespielt. Rod sagt dazu: »Ich war’s nicht, Alter! Ich glaube mit ziemlicher Sicherheit, es war der Typ, der in den sechziger Jahren in einer alten R&B-Band – Jimmy Powell and the Five Dimensions –
mein Nachfolger wurde. Ich habe zwar nicht so gut gespielt wie er, aber er hatte die gleiche verdammte Frisur – und das hat mich mehr geärgert als alles andere.« Auch sind verschiedene Informationen und Archivare auf mich zugekommen, um mir frische Details anzubieten oder mir dabei zu helfen, die eine oder andere Tatsache hinzuzufügen. Doch war die Welt Bob Marleys eine solche, in der man Meinung, Erinnerung, Interpretation und Glauben oft höher bewertete als pure Fakten, und so macht die schiere Masse widersprüchlicher Auffassungen, exotischer Rückbesinnungen, engagiert vorgetragener Lehren und dem Jenseits zugeneigter Glaubenssystem, die in alles eingeflochten sind, einen Großteil der Philosophie und der Prämissen dieses Buches aus. Es gibt in dieser Geschichte mehr oder weniger drei eigenständige Phänomene: Bob Marley, Jamaika und die Macht des Glaubens. Hat der Leser die schroffen Wahrheiten und den tieferen Hintergrund des Kapitels »Riddim Track« erst einmal verarbeitet, lade ich ihn ein in die Welt Bob Marleys aus der Betrachtungsweise jener, deren erstaunliche Glaubenskraft sie beseelte und noch immer beseelt.
Übernatürliche Ereignisse und metaphysische Koinzidenzen werden in diesem Buch erwähnt. In dem Kapitel über Haile Selassie wird geschildert, welche Glaubensansichten unter den äthiopischen Bauern und ihren gleichermaßen leichtgläubigen Führern anzutreffen waren – viele der heldenhaften Taten und übernatürlichen Fähigkeiten, die Hailie Selassie zugesprochen wurden, sind jedoch, wie berichtet wird, von dem Kaiser selbst erfunden und entsprechend von der Zentralregierung und der koptischen Priesterschaft in Umlauf gebracht worden. Weitere Informationen und Einzelheiten in späteren Teilen des Buches entstammen den Lehren einer ganzen Schar von Exponenten jamaikanischer Magie, Volksheilkunde und schwarzer Künste sowie denen von Pseudo-Rasta-Führern und Rasta-Führern, darunter Robert Athlyi Rogers, Leonard Percival Howell, B.L. Wilson, H. Archibald Dunkley und Claudius Henry. Diese zum Teil auch aus alten Zeiten stammenden Lehren sind oftmals gefiltert durch die Erinnerungen und persönlichen Katechismen Bob Marleys und seiner engen Verwandten und Freunde.
Ob der Leser solch ›übernatürliche‹ Ereignisse für glaubwürdig halten mag oder nicht, ist allein seine oder ihre Entscheidung. Mir ging es bei dem Versuch, diese Geschichte von der persönlichen Warte ihrer Protagonisten aus zu erzählen, darum, die Tatsache zu vermitteln, dass die Menschen um Haile Selassie und Bob Marley – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – wirklich an ›Magie‹ glaubten und glauben und daher ihr Leben in Übereinstimmung mit dieser Übersetzung führten und führen.
Boston, März 1991
Timothy White
»Tatsachen? Über Jamaika? Aha! Ich liebe es, wenn die Leute vom
Lande sagen, es gäbe keine Tatsachen auf Jamaika. Das klingt so
poetisch und geheimnisvoll, aber sie haben natürlich absolut recht.
Wenn man darüber nachdenkt, gibt es wirklich keine. Keine einzige.«
Chris Blackwell, 1982
»Tatsachen und Tatsachen, und Sachen und Sachen, das ist alles
verdammter Unsinn. Glaubt mir! Es gibt keine Wahrheit außer der
einen Wahrheit, und das ist die Wahrheit von Jah Rastafari!«
Bob Marley, 1978
»Der eine, der hat’s zu tun mit Information. Und der andere, der hat’s
zu tun mit einer Vorstellung von Wahrheit. Und dann ist da wieder
einer, der hat’s zu tun mit Magie. Information, die fließt um dich
herum, und die Wahrheit, die fließt auf dich zu. Aber Magie, die fließt
durch dich hindurch.«
Nernelly, ein jamaikanischer »bush doctor«, 1982
Es war kurz vor Mitternacht, und in den Beifall des auserwählten Publikums mischten sich die Rufe der zerlumpten Leute, die in Massen über die Mauern kletterten, von denen das Rufaro Stadion in Salisbury, der Hauptstadt von Simbabwe, umgeben ist. Plötzlich drehte sich der Wind, und Wolken von Tränengas, das die Polizei außerhalb der Arena benutzte, um die Menge im Zaum zu halten, trieben über das Gelände und reizten die Augen des Mannes, der auf der kleinen Bühne in der Mitte der Arena auftrat. Für einen Augenblick verlor er die Orientierung und lief aufgeregt hin und her, bis er schließlich durch ein Loch in dem Dunst, der so furchtbar in den Augen brennt, hervorstolperte. Soldaten, die M16-Gewehre schwenkten, führten ihn seitlich von der Bühne hinunter in einen Wohnwagen, wo er sich die Augen mit einem wassergetränkten Lappen abtupfte.
Das Konzert, das seit ungefähr zwanzig Minuten in Gang war, gehörte zu den offiziellen Feierlichkeiten am 18. April 1980, dem ersten Tag der Unabhängigkeit des neuen Nationalstaates Simbabwe. Die zahlenden Gäste und Würdenträger (unter ihnen der marxistische Premierminister Robert Mugabe und Prinz Charles von England), die sich versammelt hatten, um zu feiern, dass man endlich die Tyrannei der weißen Kolonialherrschaft abgeschüttelt hatte, wurden jetzt Zeugen einer anderen Art von Unterdrückung: Tausende von begeisterten Bauern und untersten Dienstgraden der Revolutionsarmee hatten sich vor der Arena versammelt, weil sie hofften, den Auftritt des international höchstgeschätzten Reggae-Musikers Bob Marley miterleben zu können, des Helden der schwarzen Freiheitskämpfer allerorten und des charismatischen Botschafters des modernen Pan-Afrikanismus. Von den pulsierenden Reggae-Rhythmen mitgerissen, die herausklangen, versuchten die Fans in immer neuen Angriffswellen die Tore zu stürmen. Die Polizei reagierte mit Tränengas und Gewehrsalven über die Köpfe des wogenden Mobs, aber die Leute ließen sich nicht zurückhalten und drängten über die Mauern.
Marley schob die dicken, zopfartigen Strähnen seiner Dreadlocks (lange, verfilzte Haarstränge) aus seinen geschwollenen Augen und warf einen suchenden Blick hinaus in die Dunkelheit jenseits des blendenden Bühnenlichts. Schreie und Rufe waren zu hören und das dumpfe Geräusch von Polizeiknüppeln, die auf Körper trafen. Aus der Entfernung sah es so aus, als würde eine wahre Menschenflut, die drohte, über die Brüstungen des Stadions hereinzubrechen, zurückschlagen. Sie waren zusammengeströmt, um begeistert die Befreiung von dem Joch weißer Unterdrückung zu feiern, und jetzt musste ein großer Teil der schwarzen Bevölkerung dieser Stadt für das simple Recht kämpfen, Reggae hören zu dürfen.
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