Horst Dreier - ad Hans Kelsen. Rechtspositivist und Demokrat

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Hans Kelsen (1881–1973) gilt vielen als der Jurist des 20. Jahrhunderts. Diese Hochschätzung verdankt sich vor allem seinem zentralen rechtstheoretischen Werk, der «Reinen Rechtslehre». Aber er war gleichzeitig sehr viel mehr als nur der Begründer der scharfsinnigsten und elaboriertesten Theorie des Rechtspositivismus. Die drei hier versammelten Aufsätze führen in das umfängliche Schaffen des Gelehrten ein. Während der erste Beitrag einen Gesamtüberblick über Leben und Werk bietet, widmen sich die beiden folgenden Aufsätze der Demokratietheorie. Sie analysieren deren sozialphilosophische Grundlegung und zeigen ihre Strukturelemente auf. Der letzte Text konzentriert sich in besonderer Weise auf die wertrelativistische Grundlegung von Kelsens Lehre.

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Horst Dreier

ad Hans Kelsen Rechtspositivist und Demokrat

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Inhalt

Zur Einführung Zur Einführung I. Hans Kelsen gilt nicht wenigen als der bedeutendste Jurist des 20. Jahrhunderts. Dieser Ruhm verdankt sich in erster Linie seiner epochalen „Reinen Rechtslehre“ (1. Aufl. 1934, 2. Aufl. 1960) 1 , der gewiß scharfsinnigsten und elaboriertesten Theorie des Rechtspositivismus. Darin besteht zweifelsohne das zentrale Vermächtnis Kelsens. Dennoch ist er sehr viel mehr als ein außerordentlicher Jurist und überragender Rechtstheoretiker. So war er maßgeblich an der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung von 1920 beteiligt, die zum ersten Mal in der modernen Verfassungsgeschichte die Einrichtung einer organisatorisch und funktionell selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit vorsah. Zwei Jahrzehnte später verfaßte Kelsen eine große soziologische Studie über „Vergeltung und Kausalität“ (1941), die dem Wandel der Denkstrukturen von den frühen archaischen Stammesgesellschaften über die klassische Antike bis hin zur Neuzeit und der Moderne nachspürt. Zeit seines Lebens setzte er sich kritisch mit allen denkbaren Erscheinungsformen des Naturrechts auseinander, angefangen von den griechischen Klassikern Platon und Aristoteles über die christlichen Denker des Mittelalters bis hin zu Vertretern der Sozialphilosophie der Aufklärung und der Neoscholastik. Davon legt neben vielen weiteren Schriften nicht nur seine Abschiedsvorlesung über die Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“ (1953) Zeugnis ab, sondern auch die postum erschienene Monographie „Die Illusion der Gerechtigkeit“ (1985). Breiten Raum nimmt in seinem Gesamtwerk zudem das Völkerrecht ein, wobei er nicht nur dessen theoretische Grundlagen traktierte, sondern auch den ersten, knapp tausend Seiten starken Kommentar zur UN-Charta von 1945 verfaßte („The Law of the United Nations“, 1950). Besonders in seinen frühen Schaffensperioden hat er sich immer wieder verfassungspolitischen Fragen gewidmet, namentlich Problemen des Wahlrechts, der bundesstaatlichen Organisation und der Verfassungsreform, und diese in engagierten Beiträgen kommentiert. Vor allem aber ist Kelsen ein eminenter Demokratietheoretiker, dessen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (2. Aufl. 1929) auf den Prämissen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Pluralität aufbaut und schon darin ihre Modernität und Aktualität offenbart. Sie gilt zu Recht als eine der wichtigsten Demokratiebegründungsschriften überhaupt.

Hans Kelsen (1881–1973)

I. Lebensstationen: Von Prag über Wien und Köln nach Berkeley

II. Das Lebenswerk: Die Reine Rechtslehre

III. Interpretationslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit

IV. Bundesstaat, Staatslehre, Völkerrecht

V. Demokratietheorie

VI. Politikwissenschaft, Soziologie, politische Philosophie

VII. Rezeption

VIII. Wissenschaft als Heimat

Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme

I. Einführung

II. Sozialphilosophische Grundlegung: Individuelle Freiheit und staatliche Ordnung

III. Strukturelemente demokratischer Ordnung

IV. Ein Gegenmodell: Carl Schmitts Lehren über die Demokratie

V. Drei Nachfragen zu Kelsens Demokratietheorie

Joh 18, Wertrelativismus und Demokratietheorie

I. Zur Deutung von Joh 18: Was ist Wahrheit?

II. Zur Bedeutung von »Wertrelativismus«

III. Zur Ausdeutung von Demokratie: Freiheit in der pluralen Gesellschaft

Anmerkungen

Auswahlbibliographie der Schriften Kelsens

Literaturhinweise

Zur Einführung

I.

Hans Kelsen gilt nicht wenigen als der bedeutendste Jurist des 20. Jahrhunderts. Dieser Ruhm verdankt sich in erster Linie seiner epochalen „Reinen Rechtslehre“ (1. Aufl. 1934, 2. Aufl. 1960) 1, der gewiß scharfsinnigsten und elaboriertesten Theorie des Rechtspositivismus. Darin besteht zweifelsohne das zentrale Vermächtnis Kelsens. Dennoch ist er sehr viel mehr als ein außerordentlicher Jurist und überragender Rechtstheoretiker. So war er maßgeblich an der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung von 1920 beteiligt, die zum ersten Mal in der modernen Verfassungsgeschichte die Einrichtung einer organisatorisch und funktionell selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit vorsah. Zwei Jahrzehnte später verfaßte Kelsen eine große soziologische Studie über „Vergeltung und Kausalität“ (1941), die dem Wandel der Denkstrukturen von den frühen archaischen Stammesgesellschaften über die klassische Antike bis hin zur Neuzeit und der Moderne nachspürt. Zeit seines Lebens setzte er sich kritisch mit allen denkbaren Erscheinungsformen des Naturrechts auseinander, angefangen von den griechischen Klassikern Platon und Aristoteles über die christlichen Denker des Mittelalters bis hin zu Vertretern der Sozialphilosophie der Aufklärung und der Neoscholastik. Davon legt neben vielen weiteren Schriften nicht nur seine Abschiedsvorlesung über die Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“ (1953) Zeugnis ab, sondern auch die postum erschienene Monographie „Die Illusion der Gerechtigkeit“ (1985). Breiten Raum nimmt in seinem Gesamtwerk zudem das Völkerrecht ein, wobei er nicht nur dessen theoretische Grundlagen traktierte, sondern auch den ersten, knapp tausend Seiten starken Kommentar zur UN-Charta von 1945 verfaßte („The Law of the United Nations“, 1950). Besonders in seinen frühen Schaffensperioden hat er sich immer wieder verfassungspolitischen Fragen gewidmet, namentlich Problemen des Wahlrechts, der bundesstaatlichen Organisation und der Verfassungsreform, und diese in engagierten Beiträgen kommentiert. Vor allem aber ist Kelsen ein eminenter Demokratietheoretiker, dessen Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ (2. Aufl. 1929) auf den Prämissen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Pluralität aufbaut und schon darin ihre Modernität und Aktualität offenbart. Sie gilt zu Recht als eine der wichtigsten Demokratiebegründungsschriften überhaupt.

II.

Die vorliegende Zusammenstellung von drei Aufsätzen zu Kelsen kann und will nicht den Anspruch erheben, sein riesiges und facettenreiches Gesamtwerk auch nur annähernd zu durchdringen und umfassend darzulegen. Es geht vielmehr darum, zu zentralen Elementen seines Œuvres einen ersten Zugang zu eröffnen und dadurch seine Positionen und Leistungen ansatzweise erkennbar werden zu lassen. In diesem Sinne einer Hin- und Einführung bietet der erste Beitrag („Hans Kelsen 1881–1973“) neben einer knappen biographischen Skizze einen Überblick über die wichtigsten Aspekte seines Schaffens. Im Mittelpunkt steht naturgemäß die „Reine Rechtslehre“, deren zentrale Elemente (wie die Stufenbaulehre und die Interpretationstheorie) ebenso vorgestellt werden wie die schillernde Figur der Grundnorm, die in dieser Theorie des Rechtspositivismus eine ähnliche Rolle spielt wie die volonté générale in Jean-Jacques Rousseaus „Contrat Social“.

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