IV. Bundesstaat, Staatslehre, Völkerrecht
Die These vom Föderalismus als einer starken Wurzel der Staatsgerichtsbarkeit 58bestätigend, hatten die Beratungen zur österreichischen Bundesverfassung von 1920 ihren Ausgang bei der Frage nach den Kontrollmöglichkeiten für bundesstaatswidrige Landesgesetze genommen, um dann in einem zweiten bedeutsamen Schritt auch die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen einzubeziehen, also die föderale Hierarchie um die Normenhierarchie zu ergänzen 59. Kelsen zufolge vollendet sich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erst die politische Idee des Bundesstaates 60. Diesen konzipiert er in Aufnahme älterer Traditionen in dreigliedriger Weise 61. Neben den Gliedstaaten und dem Zentralstaat kennt er eine dritte Größe, den Gesamtstaat bzw. besser und genauer: die Gesamtverfassung. Sie übergreift Zentralstaat und Gliedstaaten und organisiert die Zuordnung der Kompetenzen auf Zentralstaat und Gliedstaaten sowie deren näheres Verhältnis zueinander. Dieser dritten (verfassungstheoretischen) Größe entspricht keine weitere staatliche Ebene; vielmehr fungiert der Bund das eine Mal als Zentralstaat, das andere Mal als Gesamtstaat bzw. als Gesamtverfassung. Obwohl in Deutschland noch immer die Zweigliedrigkeitslehre vorherrscht 62, hat man Kelsens Lehre doch attestiert, die weder auf hierarchische Subordinationsverhältnisse noch auf reine Koordinationsbeziehungen reduzierbaren föderalen Strukturen differenziert(er) zuzuordnen und auch einschlägige positivrechtliche Bestimmungen des Grundgesetzes besser und gewissermaßen „zwanglos“ zu erklären 63.
Ganz abgesehen von den Besonderheiten bundesstaatlicher Organisation zeitigen die Prämissen der Reinen Rechtslehre (neutrale Deskription des Gegenstandes, Werturteilsfreiheit, Methodenreinheit) Konsequenzen für den Staatsbegriff 64. Jeder Staat hat demnach eine Rechtsordnung, sei diese auch ihrem Inhalt nach noch so verwerflich. Mehr noch: in diesem reduzierten und speziellen, entmaterialisierten Sinn ist jeder Staat ein Rechtsstaat 65, sofern es sich nur um eine effektive Zwangsordnung menschlichen Verhaltens handelt. Aus dem Postulat der gegenstandskonstitutiven Kraft der jeweiligen wissenschaftlichen Methode folgt sodann die Ablehnung der Zwei-Seiten-Theorie des Staates, wie sie insbesondere von Georg Jellinek verfochten wurde 66. Demgemäß ließ sich der Staat von der einen Seite her als soziales und politisches, von der anderen Seite her als rechtliches und rechtswissenschaftliches Phänomen betrachten. Kelsen leugnet diesen Dualismus schon aus methodologischen Gründen, weil jener eine irgendwie vorgegebene Entität „Staat“ voraussetzt, der dann zum Objekt unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugriffe wird. Für Kelsen gibt es aber keinen Staat an sich: weder als factum brutum noch als Realisation einer metaphysischen Idee. Das vor der Konstitution durch die jeweilige Wissenschaftsdisziplin vorhandene Substrat könnte man ja nur als diffuses Norm-Faktum-Konglomerat umschreiben, als disziplinär ungefüges „Staat-Recht-Dinges“ 67. Für Kelsen steht der Staat weder vor noch hinter und schon gar nicht über der Rechtsordnung, für ihn ist der Staat die Rechtsordnung; Staat und Recht sind identisch. Daher gibt es für den juristischen Zugriff keine legitime staatliche Gewalt über die rechtlich begründete und begründbare hinaus 68.
Das Völkerrecht hat seit jeher Kelsens besondere Aufmerksamkeit gefunden. Die Wendung von der ‚reinen Rechtslehre‘ begegnet nicht zufällig im Untertitel seiner Monographie von 1920 über Souveränität und Völkerrecht 69. Konstruktiv traktiert Kelsen vor allem das Problem einer Einheit von Völkerrecht und einzelstaatlichem Recht, wobei er gegen einen Dualismus beider Rechtsordnungen vor allem den Gedanken der erkenntnismäßigen Einheit allen Rechts bemüht und so den Monismus für „denklogisch“ zwingend hält 70. Konzipierbar sei dieser Monismus entweder als geltungstheoretisches Primat der staatlichen Rechtsordnung (Souveränitätsdogma) oder der Völkerrechtsordnung (Dogma der einheitlichen Gesamtrechtsordnung): sog. monistische „Wahlhypothese“ 71. Die Wahl selbst erscheint letztlich als Frage der Weltanschauung 72. Kelsens Beiträge zum Völkerrecht reichen indes über theoretische Grundkonzeptionen weit hinaus und umfassen auch zahlreiche bzw. zahllose Beiträge zu dogmatischen Fragen des Völkerrechts 73bis hin zur Kommentierung der UN-Charta von 1945, bei der er seinen methodologischen Prämissen zu entsprechen sucht 74. Es dürfte gerade die Verbindung eines hohen Abstraktionsniveaus mit der Mannigfaltigkeit der erörterten Themen und Fragestellungen sein, die zur Anschlußfähigkeit und der verstärkten Rezeption des Völkerrechtlers Kelsen in jüngerer Zeit maßgeblich beigetragen haben 75. Auch für die schwierig zu deutende Gesamtkonstruktion der Europäischen Union und ihr Verhältnis zu den Mitgliedstaaten hat man die Souveränitätskonzeption Kelsens mit ihrer Offenheit gegenüber fluiden Gestaltungs- und Verteilungsmöglichkeiten hoheitlicher Kompetenzen auf verschiedene Ebenen und Träger in durchaus fruchtbarer Weise herangezogen 76, zumal Kelsen selbst die Schaffung einer internationalen Organisation, die ihren Mitgliedern den Staatscharakter entzieht, für durchaus möglich gehalten hat 77.
Kelsen war nicht allein Rechtstheoretiker und Verfasser ungezählter rechtsdogmatischer Schriften, Kommentare durchaus eingeschlossen, sondern – neben seiner praktischen Tätigkeit in der Volksbildung 78– auch der Autor einer „der großen Demokratiebegründungsschriften überhaupt“ 79. Seinen zentralen Beitrag über „Wesen und Wert der Demokratie“ 80verfaßte er in den unruhigen Jahren der Weimarer Republik, in denen nicht zuletzt auch unter vielen Staatsrechtslehrern Parlamentarismus-, Pluralismus- und Parteienkritik dominierten. Kelsen hingegen spricht ausdrücklich davon, daß der Parlamentarismus die „einzige reale Form“ sei, „in der die Idee der Demokratie innerhalb der sozialen Wirklichkeit von heute erfüllt werden kann“; daß diese Demokratie „notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat“ sein müsse; daß sie in der Moderne auf der Basis eines vielfältigen gesellschaftlichen Pluralismus mit entsprechend divergenten Auffassungen und Interessen denkbar sei, deren Ausgleich im Wege der „Erzielung eines Kompromisses“ im dafür prädestinierten parlamentarischen Verfahren erfolgen müsse 81.
Seinen argumentativen Ausgangspunkt nimmt Kelsens Demokratieverständnis nicht beim Kollektivsubjekt Volk, sondern bei der Idee der Freiheit des Einzelnen, bei dessen Autonomie und Selbstgesetzgebung. Sie bildet den entscheidenden Fixpunkt. Freilich unterliegt dieser aufgrund der Komplizierung sozialer Verhältnisse, der Vorteile arbeitsteiliger Organisation und der Notwendigkeit gesamtgesellschaftlicher Einheitsbildung einer ganzen Reihe gravierender Metamorphosen, die das utopische und im Grunde a-staatliche Ideal absoluter individueller Autonomie in die realistische Form der Mehrheitsherrschaft gewählter parlamentarischer Repräsentanten transformiert. Die anarchische Freiheit von jeglicher Ordnung wandelt sich zur stets beschränkten Freiheit im Staat, in dem gewählte Repräsentanten mit Mehrheit die für alle geltenden Gesetze beschließen. Diese können nicht für sich reklamieren, Ausdruck einer höheren Vernunft mit objektivem Geltungsanspruch zu sein, sondern stellen lediglich die temporär gültige, prinzipiell revisible Fixierung einer Position dar, die den Willen der jeweiligen Mehrheit verkörpert. Demokratie wird auf diese Weise verstanden als eine politische Koexistenzordnung auf der Basis eines akzeptierten Pluralismus der Meinungen, Glaubensrichtungen und Interessen, von denen keine für sich reklamieren kann, die objektive Wahrheit zu verkörpern. Insoweit hat Kelsen davon gesprochen, daß der Relativismus diejenige Weltanschauung sei, die die Demokratie voraussetzt 82.
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