„Lous Mutter zeigte das jüdische Mutter-Syndrom bei ihrem ersten Kind“, erzählt ein Freund der Familie. „Dem ersten Kind wird zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Der Kleine sagt dann: ‚Schau mir zu, schau mir zu, schau mir zu.‘ Man kann ihnen nie genug Beachtung schenken, und deswegen sind sie auch nie richtig glücklich, denn sie erwarten ja, dass sie dauernd beachtet werden. Seine Mutter ging nicht frühmorgens los zur Arbeit, sie war wirklich rund um die Uhr Mutter. Immer auf dem Beobachtungsposten. Und so haben sie dem Kind eine Kulisse aufgebaut, die es im späteren Leben nie wieder finden konnte.“
Als Lou fünf Jahre alt war, bekamen die Reeds ihr zweites Kind, Elizabeth, zärtlich Bunny genannt. Einerseits war Lou ganz vernarrt in seine kleine Schwester, andererseits war ihre Ankunft für ihn sehr beunruhigend. Die Liebe seiner Mutter war eine Falle, und der Köder bestand in der gefühlsmäßigen Erpressung. Erstens: Da das Glück der Mutter vom Glück ihres Sohnes abhängt, ist es die Pflicht des Sohnes, glücklich zu sein. Zweitens: Mutterliebe ist so überwältigend, dass es für den Sohn unmöglich ist, ihr ein gleiches Maß an Liebe zurückzugeben; deswegen ist er grundsätzlich schuldig. Mit der Ankunft der Schwester ist die Mutterliebe nicht mehr uneingeschränkt auf ein Kind bezogen. Die Kombination dieser drei Elemente führt schließlich dazu, dass der Sohn emotional in eine Lage gerät, die ihn völlig überfordert. Er fühlt sich ohnmächtig, verwirrt und wütend. Die Falle spannt sich durch das Unvermögen, über diese Konflikte zu reden. Der Sohn unterdrückt seine feindselige Verbitterung, bis er eine Frau heiratet, die seine Mutter ersetzt. Und dann schnappt die Falle zu – mitten ins Gesicht seiner Frau.
Goldmans Schlussfolgerung aus dieser emotionalen Konstellation traf auf Reed ebenso zu wie auf Bruce: „Die Söhne entwickeln gespaltene Persönlichkeiten. Sie lieben, wenn sie hassen, und sie hassen, wenn sie lieben sollten. Sie gehen Bindungen mit Frauen ein, die sie verletzen, und behandeln Frauen, die ihnen wahre Liebe schenken, mit Verachtung. Bei der Arbeit sind sie oft sehr talentiert, aber ihre männliche Persönlichkeit bleibt im Privatleben oft merkwürdig unterentwickelt.“
Im Jahr 1953 – dem Jahr, in dem es mit der Rockmusik richtig losging – zogen die Reeds von ihrer Wohnung in Brooklyn in das Haus in Freeport. Das moderne, eingeschossige Anwesen lag in der Oakfield Avenue Nummer 35, an der Kreuzung von Oakfield und Maxon, in dem „The Village“ genannten Mittelschichtviertel von Freeport. Die anderen Häuser dort waren im Kolonial- oder Wildweststil erbaut, aber die Familie Reed wohnte in einem modernen, rechteckigen Flachbau, der von den Freunden auch als „Hühnerstall“ bezeichnet wurde.
Obwohl der Bungalow von außen sehr nüchtern und ein wenig seltsam wirkte, waren die Innenräume gut geschnitten und verfügten über allen Komfort und die modische Einrichtung im Stil der Fünfzigerjahre. Der Rasen, der das Haus von allen Seiten umgab, war ein idealer Spielplatz für Kinder, und außerdem gab es zwei Garagen. Die breiten, ruhigen Straßen der Gegend dienten oft als Baseball- und Footballfelder, auf denen die Jugendlichen aus der Nachbarschaft zu einem schnellen improvisierten Spiel zusammenkamen.
In der näheren Umgebung wohnten hauptsächlich Juden aus der oberen Mittelschicht. Genau wie den europäischen Juden, die nach wie vor einwanderten, war auch den etablierten amerikanischen Juden die Vorstellung eines großstädtischen, ghettoartigen Judenviertels unerträglich geworden. Viele jüdische Familien, die es im Nachkriegsamerika zu etwas gebracht hatten, waren aus New York weggezogen. Sie lebten in Vorstädten, die alle gleich aussahen, und versuchten die letzten Spuren des Ghettos zu verwischen, indem sie ein Mittelschichtleben führten, das sie amerikanisieren und integrieren würde. Durch die Abwanderung von New York nach Long Island entstand dort eine Mittelschicht in den Vorstädten, die Geld mit Stabilität gleichsetzte und Reichtum mit Status und Macht. Freeport hatte zu dieser Zeit etwas weniger als dreißigtausend Einwohner. Es lag an den Freeport und Middle Bays, direkt am Atlantik, und war durch den schmalen, vorgelagerten Long Beach vor dem Ozean geschützt. Die Stadt, eine von tausenden, die Long Island der Länge nach überzogen, war ausschließlich auf die Bedürfnisse der hier lebenden Mittelschichtfamilien eingerichtet. Und obwohl es nur fünfundvierzig Minuten dauerte, um mit dem Auto oder dem Zug nach Manhattan zu fahren, hätte man von Brooklyn, wo die Familie gerade hergekommen war, ebenso gut Lichtjahre entfernt sein können. Mit gefällig angelegten Parks, Stränden, Einkaufszentren und Schulen war Freeport das reinste Vorstadt-Utopia.
Lewis war umgeben von Kindern, die genau dem gleichen sozialen und ökonomischen Milieu entstammten wie er selbst. Sein bester Freund, Allen Hyman, der immer bei den Reeds aß und nur anderthalb Blocks entfernt wohnte, erinnerte sich: „Ihr Haus war im Stil der Fünfziger eingerichtet, also modern für die damalige Zeit, Wohn- und Esszimmer. Meiner Ansicht nach entsprach seine Erziehung, zumindest von der sechsten Klasse an, absolut den Werten der vorstädtischen Mittelschicht.“
Nachdem sie die Carolyn-G.-Atkinson-Grundschule und danach, im Frühling 1965, die Freeport Junior High abgeschlossen hatten, wechselten Lewis und seine Freunde zur Freeport High School (mittlerweile ersetzt durch eine Junior High, die wie ein Bunker aussieht). Diese Schule glich einem englischen Internat, wie Eton oder Rugby. Das lang gezogene Steingebäude mit seiner verzierten Fassade und den weitläufigen Rasenflächen lag an der Ecke von Pine und South Grove. Vom Haus der Reeds aus war es ein zehnminütiger Spaziergang dorthin, durch die von Bäumen gesäumten Straßen des Freeport Village hindurch und dann direkt auf der anderen Seite des verkehrsreichen Sunrise Highway. „Ich fing mit dem Brooklyn Public School System an, und von da an habe ich alle Schulen und jede Form von Autorität gehasst“, sagte Lou später.
Die Gegend hatte von jeher Komödianten angezogen und ihren ganz eigenen Humor entwickelt. Freeports Haupterwerb in den Zwanzigerjahren war die Muschelfischerei gewesen. Außerdem gab es hier einen aktiven Ku-Klux-Klan sowie den Deutsch-Amerikanischen Bund im nahe gelegenen Lindenhurst. In den Dreißiger- und Vierzigerjahren ließen sich viele Vaudeville-Komiker von der Ostküste hier nieder. Sie brachten nicht nur sentimentalen Kitsch und einen exzentrischen Lebensstil in die Stadt, sondern in ihrem Gefolge tauchten auch die ersten Schwarzen in Freeport auf, die anfangs noch als deren Dienstboten arbeiteten. Zu dem Zeitpunkt, als die Reeds sich hier niederließen, waren diese Leute aus dem Showgeschäft gerade dabei, ihre eigenen künstlerischen Neigungen mit den musikalischen Traditionen von Freeport zu verknüpfen. Zu den direkten Nachbarn der Reeds gehörten Leo Carillo, ein Schauspieler, der in der populären Fernsehsendung The Cisco Kids den Pancho spielte, Xavier Cugats erster Marimba-Spieler und außerdem June Lockhart, die Fernsehmutter von Lassie. Die Guylanders – wie sich die Leute von Long Island nannten – ließen sich jedoch von all diesen Berühmtheiten, Würdenträgern, Namen und Allüren, die den New-Yorkern, insbesondere den „Manhattanites“, so viel bedeuteten, nicht beeindrucken. „Von Lou ist mir am stärksten sein überwältigendes Gespür für Satire im Gedächtnis geblieben“, erinnert sich John Shebar, ein Freund aus der Highschool. „Er legte eine gewisse Respektlosigkeit an den Tag, die ungewöhnlich war. Meistens machte er sich über die Lehrer lustig oder spielte eine lächerliche Szene, die sich im Unterricht ereignet hatte, nach.“
Als Kind beherrschte Lewis alle Nuancen des jüdischen Humors. Hier gab es keinen Witz, der sich nicht der Tatsache bewusst war, dass sich darunter eine tiefe Traurigkeit verbarg, die von dem Bösen, das untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden ist, herrührte. Jüdischer Humor spielte mit schneidenden, spöttischen Bemerkungen – stets in der Absicht, denjenigen, dem der Angriff galt, in den Augen Gottes zu erniedrigen.
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