Dies ist keine autorisierte Biografie, und ich will mich auch nicht dafür entschuldigen, wenn ich abgegraste Themenbereiche nochmals anspreche. Es sind bereits einige Morrissey-Biografien erschienen, doch scheinen die meisten von geldgierigen Opportunisten, aufdringlichen Fans, schwulen Kavalieren oder findigen Internetsurfern zusammengeschrieben worden zu sein. Die Autoren lassen sich nach Belieben in alle möglichen Kategorien einordnen. Sämtliche bis heute verfassten Biografien sind jedoch von Personen geschrieben (oder besser zusammengetragen) worden, die nicht ein einziges Interview mit Morrissey geführt haben. Im Großen und Ganzen haben diese Bücher trotzdem eine gewisse Berechtigung: Sie erzählen die offensichtlichen Geschichten aus einer distanzierten, journalistischen Vogelperspektive heraus. Mit einer erwähnenswerten Ausnahme hat es jedoch beinahe den Anschein, als wären sie an einem einzigen Nachmittag heruntergerattert worden, um schnell noch auf den letzten Smiths- oder Morrissey-Zug aufzuspringen.
Die Ausnahme ist natürlich Johnny Rogans Buch The Severed Alliance. Zwar hat sich Rogan nicht mit Morrissey getroffen, doch er sprach mit den anderen Smiths und fand durch sorgfältige Nachforschungen die Wahrheit (besser gesagt, Rogans Version der Wahrheit) über Morrisseys Leben heraus. Wie bei allen anderen von Rogans Themen – The Byrds, Neil Young, Van Morrison, The Kinks, John Lennon – ist auch hier die detektivische Kleinarbeit beeindruckend. Doch trotz sauberer Recherche und akademischer Vorgehensweise gelingt es The Severed Alliance meiner Meinung nach nicht, zum Herzen und der Seele seiner zentralen Figur vorzudringen.
Der vorliegende bescheidene Wälzer versucht, einer gewissen Nachfrage gerecht zu werden, vielleicht sogar eine Lücke zu schließen. Es ist die erste Biografie bzw. es sind die ersten Memoiren, deren Autor über mehrere Jahre in direktem Kontakt zu Morrissey gestanden hat. Es ist daher unvermeidlich, dass das Buch randvoll mit meinen eigenen Kommentaren und persönlichen Eindrücken von Morrissey ist, doch ich hoffe, dass sich durch meine journalistischen Begegnungen mit ihm – vom Besuch meines ersten Smiths-Konzerts im Jahre 1983 bis zu einem Treffen auf der „Ringleader Of The Tormentors“-Tournee 2006 – ein runderes und lebendigeres Bild des Künstlers, seiner Musik und seiner Inspirationsquellen ergibt.
Er ist eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Durch meine Arbeit als freier Journalist und als Fernsehproduzent/-regisseur hatte ich das Glück, viele berühmte Musiker kennenzulernen: inspirierende Künstler wie Kate Bush, Youssou N’Dour, Noel Gallagher, Gil Scott-Heron und Peter Gabriel; sympathische, aber schüchterne Charaktere wie Rod Stewart, Ringo Starr und Elton John; sogar brillante und schwierige Talente wie etwa Ray Davies oder Dusty Springfield. Morrissey jedoch schien immer etwas Besonderes zu sein. Nicht nur aufgrund der Qualität seiner Texte, ihrer geistreichen Querverweise oder weil er stets den Mut hatte, Tabuthemen anzusprechen, sondern auch, weil er seinen Hang zur Depression und eine fast schon kriminelle Schüchternheit auf eine ganz eigene Weise überwunden und so sein Ziel erreicht hat.
Zu seinen großen Verdiensten gehört zwar die Verherrlichung der Außenseiterrolle – in Texten, Interviews und sogar bei der Covergestaltung der Smiths-Platten –, aber ich würde gerne versuchen, ihn von jenen Minderheiten zurückzufordern, die zu glauben scheinen, er wäre ihr Eigentum. Obwohl er von vielen Mitgliedern der lesbischen und schwulen Gemeinde zu Recht als Vorbild verehrt wird und daneben zur Galionsfigur der Tierschützer- und Vegetarier-Lobby geworden ist, denke ich doch, dass es wichtig ist, seine Kunst in einem weiteren und weniger eingeengten Kontext zu betrachten. Kurz gesagt, hat er während der letzten 25 Jahre versucht, auf dem Gebiet der Popmusik das zu leisten, was sein Held Oscar Wilde exakt ein Jahrhundert vor ihm auf solch dramatische Weise erreicht hat.
Wilde vertrat die Ansicht, dass Kunst an sich grundsätzlich abweichlerisch sei, und sagte einmal, „jeder Versuch, das Themenspektrum der Kunst zu erweitern“, erscheine „der Öffentlichkeit extrem geschmacklos; und doch hängen die Lebendigkeit und die Weiterentwicklung der Kunst zu einem großen Teil davon ab, dass sie ihr Themenspektrum ständig erweitert.“ Morrissey hat diese Ansicht verinnerlicht und Wildes Herausforderung angenommen. Man kann ihn mögen oder hassen – dazwischen gibt es nichts –, doch hat er eindeutig das Themenspektrum der Popmusik erweitert. Den meisten Popsongs gelingt es nicht, einen Bezug zum wirklichen Leben herzustellen oder auf dessen viele Missstände aufmerksam zu machen. Stattdessen bedienen sie kommerziell attraktive, radiofreundliche Klischees von Liebe, Geld, „konventionellem“ Sex, dem Streben nach Wohlstand und dem Wunsch nach Statussymbolen. Morrisseys Texte hingegen haben den Status quo stets in Frage gestellt und angezweifelt.
Wenn man diese Richtung einschlägt und sich derart gegen den Wind stemmt, löst man freilich Kontroversen aus. Im Jahre 1992 sagte er: „Die Wahrheit ist, dass wir in dieser aufregenden Welt der Popmusik eingeschränkt sind. Ob man nun über Leute schreibt, die an den Rollstuhl gefesselt sind, wie in ‚November Spawned A Monster‘ oder den Rassismus thematisiert wie in ‚The National Front Disco‘, so wird der Kontext doch meist übersehen. Die Leute lesen den Titel, wenden sich mit Grausen ab und sagen: ‚Worum es in diesem Song auch geht – so etwas sollte es nicht geben, weil Millionen von Menschen dieses Thema grässlich finden.‘“
Das ist es, was Morrissey so anders und interessant macht und diejenigen, die ihn nicht mögen, so sehr irritiert. Weit davon entfernt, das traditionelle, PR-taugliche Bild von Großbritannien zu bedienen, jenes arroganten, überlegenen Englands mit Weltherrschaftsanspruch, hält Morrisseys Kunst dem modernen Großbritannien bewusst und schonungslos einen Spiegel vor, in welchem häufig die Opfer und die Schurken aus den dunklen Tagen der Vergangenheit zu sehen sind. Viele von ihm still verehrte schwule Ikonen beispielsweise – von Oscar Wilde über Joe Meek bis hin zu Joe Orton – wurden von der bürgerlichen Gesellschaft gestoßen und getreten. Offensichtlich ist Morrissey überzeugt, dass wir von unseren Opfern mehr lernen können als von unseren Berühmtheiten.
Als Folge davon wird ihm häufig vorgeworfen, er sei pessimistisch, bewusst übellaunig und konzentriere sich ausschließlich auf die negativen Erscheinungen des modernen Lebens: auf die Rassisten, Kindsmörder, korrupten Polizisten, Schläger, Schwulenhasser, Hooligans, Bandenchefs und Heuchler … Andere indes haben ihm mit derselben Vehemenz vorgeworfen, er sei nostalgisch und hänge einem mythischen England aus der guten alten Zeit nach. Das trifft jedoch ganz und gar nicht zu. Morrissey selbst kommentierte dies einmal so: „Wenn ich etwas aus den Sechzigern lobe, einen Film oder eine Platte, dann meine ich das auch so. Ich grabe keinen Wikingerhelm aus und fange an, mir irgendetwas zusammenzuträumen. Ich finde, dass es eine sehr produktive und interessante Zeit war. Insbesondere mit der Kunst ist es seit Beginn der Siebziger bergab gegangen. Die Siebziger waren grauenvoll.“
In diesem Kontext ist es unbedingt notwendig, die Ereignisse zu verstehen, die ihn als Kind in den Sechzigern und als Teenager in den Siebziger geprägt, frustriert und beeinflusst haben. Es ist nicht das harmlose, unkritische Opium fürs Volk, das Rohmaterial der vorherrschenden christlichen und heterosexuellen Populärkultur, sondern die härteren, aber reizvolleren Aspekte des wirklichen Lebens: der inter-rassische Sex und die Minderjährigenschwangerschaft in Bitterer Honig, der Klassenkampf der Arbeiterschaft in Samstagnacht und Sonntagmorgen, die (bis 1967) illegale Darstellung homosexueller Ängste in Filmen wie Victim oder The Leather Boys und der Aufstieg des Feminismus im Norden, verkörpert von Pat Phoenix als Elsie Tanner, die er einmal als erste „zornige junge Frau“ in der Seifenoper Coronation Street beschrieb.
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