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VORWORT VON DEAN RADIN, PHD
Wissenschaftlicher Leiter, Institute of Noetic Sciences
Alte Wolken
Im April 1900 hielt der britische Physiker William Thomson, der 1. Baron Kelvin, einen Vortrag vor der Royal Society of London. Damals war die im Jahr 1660 gegründete Royal Society die bedeutendste wissenschaftliche Organisation der Welt. Seine Disziplin sei, verkündete Lord Kelvin, so erfolgreich darin, die Geheimnisse des Universums zu lüften, dass die Physik im Grunde genommen vollständig war und es nichts Neues mehr zu erforschen gab.
Vollständig, sollte heißen, bis auf – wie er es ausdrückte – zwei »kleine Wolken«. Damit bezog er sich auf zwei Phänomene der Physik, die nach wie vor rätselhaft blieben. Die besagten Wolken waren der »leuchtende Äther« und die »Ultraviolett-Katastrophe«, sprich die Schwarzkörperstrahlung. Beide betrafen physikalische Eigenschaften des Lichts, die sich auch durch die besten Theorien der damaligen Physik nicht erklären ließen. Beide Wolken wurden als vergleichsweise kleine Probleme angesehen, die bald schon behoben sein dürften, entweder weil Wissenschaftler entdeckten, dass es sich in Wahrheit um »Nichtprobleme« handelte – möglicherweise aufgrund von Fehlinterpretationen experimenteller Daten – oder weil man nach einigen kleineren Anpassungen der bestehenden Theorien Erklärungen für die Probleme finden würde.
Acht Monate später schlug der deutsche Physiker Max Planck eine radikale Lösung für eine von Lord Kelvins »Wolken« vor. Seine Idee war der Ursprung der Quantentheorie, die die Welt veränderte, indem sie die Entwicklung moderner Elektronik, Computer und Kommunikationsmittel anstieß und schließlich das gesamte Informationszeitalter in Gang setzte. Einige Jahre nach Planck erklärte Albert Einstein die andere »Wolke« mit einem ebenso radikalen Konzept, aus dem heraus die Relativitätstheorie entstand. Einsteins Ideen veränderten die Welt, indem sie das Atomzeitalter einleiteten. In beiden Fällen veränderte das bessere Verständnis dieser beiden Wolken von Grund auf unsere Annahmen über die Natur von Raum und Zeit, und das wiederum gab den Anstoß zu weitreichenden Transformationen in Technologien, Volkswirtschaften, in der Politik und den globalen Machtverhältnissen – mit anderen Worten: in fast allen Bereichen.
Die Ideen von Planck und Einstein kamen wie Blitze aus heiterem Himmel, und beide waren jahrelang heftig umstritten, bevor sie sich schließlich durchsetzen konnten. Heute bezeichnen wir die Physik aus der Zeit Lord Kelvins als die »klassische Physik« und verstehen darunter einen Sonderfall eines umfassenderen Verständnisses der physischen Welt. Die dem gesunden Menschenverstand vertrauten Vorstellungen von Raum und Zeit werden nicht mehr als selbstverständliche Absolutheiten betrachtet. Stattdessen werden sie als hochfeine, flexible »Beziehungen« verstanden.
Auch heute behaupten manche Wissenschaftler (mit dem gleichen unangebrachten Vertrauen, das auch Lord Kelvin seinerzeit zur Schau stellte), wir würden jetzt so ziemlich alles verstehen, was es über die physische Welt zu wissen gibt. Sie sind sicher, dass sie verstanden haben, was möglich ist und was nicht. Für sie ist Präkognition schlichtweg unmöglich, weil die heutigen Theorien einen solchen Unsinn nicht zulassen. Auch einige Philosophen halten Präkognition für unmöglich, da ihrer Auffassung nach die Vorstellung, die Zukunft zu kennen, nach logischen Prinzipien inkohärent ist.
Was diese Wissenschaftler und Gelehrten vergessen, ist, dass unsere Theorien über die Realität immer provisorisch , also vorläufig, sind. Die akademischen Lehrbücher werden alle paar Jahre in neue Ausgaben überführt, weil sich unser Verständnis der Realität beständig weiterentwickelt. Es gibt Dutzende von Wolken, Anomalien und Rätseln, die an den Grenzen des Bekannten lauern, und es gibt eine fast unendliche Anzahl von Rätseln, die jenseits des Bekannten liegen. Gelegentlich werden Anomalien als Fehler entlarvt, aber »hartnäckige Wolken« – insbesondere menschliche Erfahrungen, von denen im Laufe der Geschichte und über alle Kulturen hinweg berichtet wurde – sind Anzeichen dafür, dass etwas an unserem gegenwärtigen Verständnis der Realität ernsthaft aus dem Lot geraten ist.
So, wie die beiden Wolken von Lord Kelvin dann doch nicht durch geringfügige Veränderungen an der Physik des 19. Jahrhunderts erklärt werden konnten, wird auch unser Verständnis der Realität und darüber, wie unsere Zivilisation funktioniert, aller Wahrscheinlichkeit nach einige radikale Veränderungen durchlaufen, wenn wir uns endlich einer adäquaten Erklärung für Vorahnungen und andere paranormale Phänomene annähern.
Heute sehen wir uns mit zwei neuen Wolken konfrontiert, die unter den Bezeichnungen »Qualia« und »Quanten« bekannt sind. Die erste betrifft die Natur des Bewusstseins, während es sich bei der zweiten um einen mit Max Plancks verwegener Idee verbundenen, unerwarteten Effekt handelt. Qualia bezieht sich auf bewusste Wahrnehmung, Quanten auf die Entdeckung, dass Objekte auf der Quantenskala höchst empfindlich darauf reagieren, beobachtet zu werden. Beide Wolken werfen Fragen über die Rolle des Bewusstseins in der physischen Welt auf, und beide stellen das wissenschaftliche Paradigma des Materialismus – die Annahme, Materie sei die Grundlage für alles, einschließlich des Geistes – vor große Herausforderungen.
Den meisten Wissenschaftlern wird beigebracht, dass Wissenschaft gleichbedeutend ist mit Materialismus. Viele gehen daher davon aus, dass Qualia und Quanten doch keine Probleme sind. Beide Wolken werden als Aspekte der Realität betrachtet, die einfach irgendwie aus der materiellen Welt hervorgehen. Und wie einst Lord Kelvin sind sie überzeugt davon, diese beiden »Bewusstseinswolken« schlussendlich vollständig in alltäglichen, materiellen Begriffen erklären zu können.
Dummerweise mehren sich die Hinweise darauf, dass diese Annahme falsch ist. Anstelle von Wolkenfetzen, die im Lichte bestehender Theorien verblassen, handelt es sich bei diesen Wolken viel eher um massive Wolkentürme, die aufkommende Superstürme hinweisen. Sie sind die Vorhut einer Vielzahl verwandter Wolken, von denen jede herausfordernder ist als die vorherige. Dazu gehören Genies, Savants (Menschen mit Inselbegabungen), Nahtoderfahrungen, Medialität, Channelling, Reinkarnationen, übersinnliche Phänomene und mystische Erfahrungen. Niemand zweifelt an der Existenz von Genies und Savants unter uns, schlüssige Erklärungen für die Fähigkeiten solcher Menschen jedoch haben wir nicht, und die Interpretationen der anderen häufig berichteten Effekte gelten als höchst umstritten, weil sie nicht durch physische Konzepte erklärt werden können.
Wenn der Materialismus nicht funktioniert, um Qualia und Quanten zu erklären, was dann? Bei der Entwicklung neuer Erklärungsmodelle ist es wichtig, darauf zu achten, dass wir bisher nützliche Ideen nicht unbesehen über Bord werfen, ohne etwas noch Besseres zu haben, das an ihre Stelle treten könnte. Tatsächlich befürchten nicht wenige Wissenschaftler, ein neues Paradigma könnte auftauchen und sie zwingen, die Lehrbücher zu entsorgen, auf die sie sich so lange verlassen (oder die sie selbst verfasst) haben. Wenig verwunderlich regt sich starker Widerstand dagegen, den Wissensfundus, auf dem die eigene Karriere und Weltanschauung basiert, ad acta zu legen. Mit anderen Worten: Wir brauchen einen Erklärungsrahmen, der diese Angst lindert oder zumindest doch nicht noch weiter schürt. Wir brauchen einen Ansatz, um über die Realität nachzudenken, der alle mit dem Bewusstsein verbundenen Anomalien, einschließlich der Präkognition, zulässt und sogar voraussagt. Glücklicherweise gibt es einen solchen Ansatz, und zwar einen, der nur eine Anpassung unserer bestehenden Annahmen erfordert. Dazu müssen wir das Bewusstsein, das bislang als bloßer Nebeneffekt der Gehirnaktivität gilt, als grundlegend betrachten – in der Tat grundlegender als die physische Welt selbst. Philosophen diskutieren diese Idee seit Jahrtausenden – man nennt sie »Idealismus«.
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