Es lassen sich viele weitere Übungen derselben Art machen. Manche haben einen förderlichen Einfluss auf den Charakter und so einen doppelten Vorteil: den, das Denken zu erziehen und den, eine Kontrolle über die Gefühle und ihre Auswirkungen zu bekommen. Man darf zum Beispiel niemals seinem Verstand erlauben, Dinge und Menschen zu beurteilen, denn das Denken ist kein Werkzeug der Erkenntnis. Es ist ihm unmöglich, die Erkenntnis zu finden, aber es soll von ihr in Bewegung gesetzt werden. Die Erkenntnis gehört einem viel höheren Reiche an als dem des menschlichen Denkens, sie steht weit darüber, noch oberhalb der Ebene der reinen Ideen. Unser Denken muss schweigend lauschen können, um die Erkenntnis von oben zu empfangen und um sie auszudrücken, denn es ist ein Werkzeug der Formation, der Organisation und der Handlung. Und in diesen Funktionen hat es seinen vollen Wert und seinen wirklichen Nutzen.
Eine andere Gewohnheit, die für den Fortschritt des Bewusstseins sehr nützlich sein kann, besteht darin, dass man sich niemals in seine eigene Auffassung einschließt, sich in seinen eigenen Standpunkt verbohrt, wenn man mit jemandem in irgendeinem Punkt nicht übereinstimmt, beispielsweise im Hinblick auf eine Entscheidung, die zu fällen oder ein Unternehmen, das zu beginnen ist. Im Gegenteil sollte man sich bemühen, den Standpunkt des anderen zu verstehen, sich an seine Stelle zu versetzen. Und anstatt sich zu streiten oder gar handgreiflich zu werden, muss man eine Lösung finden, die beide Parteien in annehmbarer Weise befriedigt – es gibt immer eine Lösung für Menschen guten Willens.
Hier müssen wir auf die Disziplin des Vitalen zu sprechen kommen. Das vitale Wesen in uns ist der Sitz der Triebe und Wünsche, der Begeisterung und der Heftigkeit, der dynamischen Energie und der verzweifelten Depressionen, der Leidenschaften und der Auflehnung. Es kann alles in Bewegung setzen, aufbauen und verwirklichen, aber es kann auch alles zerstören und alles verderben. So ist es im menschlichen Wesen vielleicht der Teil, der am schwierigsten zu disziplinieren ist. Es ist eine langwierige Arbeit, die eine große Geduld und eine vollkommene Aufrichtigkeit erfordert, denn ohne Aufrichtigkeit vom ersten Schritt an wird man sich nur selbst täuschen, und jeder Versuch des Fortschritts wird vergeblich sein.
Mit der Mitarbeit des Vitalen scheint kein Erfolg unmöglich, keine Verwandlung undurchführbar. Doch die Schwierigkeit liegt darin, diese ständige Mitarbeit zu erhalten. Das Vitale ist ein guter Arbeiter, aber es sucht meistens seine eigene Befriedigung. Wenn diese ihm ganz oder teilweise entzogen wird, ärgert es sich, schmollt und streikt. Die Energie schwindet mehr oder weniger vollständig und macht dem Ekel an Dingen und Menschen Platz, der Entmutigung oder der Auflehnung, der Depression und der Unzufriedenheit. In diesen Augenblicken ist es gut, ruhig zu bleiben und von jeder Tätigkeit Abstand zu nehmen, denn es sind die Augenblicke, in denen man Dummheiten macht und in einem Moment Monate regelmäßiger Anstrengung und den daraus erwachsenen Fortschritt zunichte machen kann. Diese Krisen sind weniger langwierig und gefährlich bei denen, die genügend innige Beziehungen zu dem seelischen Teil ihres Wesens hergestellt haben, um die Flamme der Sehnsucht und das Bewusstsein des zu verwirklichenden Ideals in sich lebendig zu erhalten. Mit Hilfe dieses Bewusstseins können sie auf ihr Vitales einwirken, so wie man auf ein aufbegehrendes Kind einwirkt, mit Ruhe und Geduld, ihm die Wahrheit und das Licht zeigend, bemüht, es zu überzeugen und den guten Willen in ihm wieder zu erwecken, der für einen Augenblick verschleiert war. Dank dieses geduldigen Eingreifens kann jede Krise in einen neuen Fortschritt, in einen weiteren Schritt dem Ziel entgegen verwandelt werden. Die Fortschritte mögen langsam sein, die Rückfälle häufig, doch wenn man einen tapferen Willen behält, kann man sicher sein, eines Tages zu triumphieren und zu sehen, wie alle Schwierigkeiten vor dem strahlenden Glanz des Wahrheitsbewusstseins dahinschmelzen und verschwinden.
Schließlich ist es auch notwendig, durch eine vernünftige und einsichtige Körpererziehung unseren Körper kräftig und geschmeidig genug zu machen, damit er in dieser materiellen Welt ein geeignetes Werkzeug der Wahrheitskraft wird, die sich durch uns zum Ausdruck bringen will. Denn der Körper soll ja nicht regieren, sondern gehorchen, und seine wahre Natur ist es, ein gehorsamer und treuer Diener zu sein. Unglücklicherweise hat er im Hinblick auf seine Meister, das Mentale und das Vitale, selten die notwendige Unterscheidungskraft. Er gehorcht ihnen blindlings, sehr zum Schaden seines eigenen Wohlergehens. Das Mentale mit seinen Dogmen und seinen starren, willkürlichen Prinzipien, das Vitale mit seinen Leidenschaften, seinen Übertreibungen und Ausschweifungen können das natürliche Gleichgewicht des Körpers im Nu zerstören und in ihm Überarbeitung, Erschöpfung und Krankheit hervorrufen. Von dieser Tyrannei muss man ihn befreien, und das ist nur möglich durch das beständige Einssein mit dem seelischen Mittelpunkt des Wesens. Der Körper hat eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit und Ausdauer. Er ist zu viel mehr fähig, als man gewöhnlich glaubt. Wenn er, statt von unwissenden und despotischen Herren regiert zu werden, von der zentralen Wahrheit des Seins gelenkt wird, so wird man mit großer Verwunderung feststellen, was er alles zu leisten vermag. Ruhig und schweigend, stark und ausgeglichen, wird er in jeder Minute die geforderte Leistung vollbringen können, denn er wird gelernt haben, in der Tätigkeit selbst die Entspannung zu finden und durch die Berührung mit den universellen Kräften seine sinnvoll und bewusst ausgegebenen Energien zu erneuern. In einem solchen ausgeglichenen und gesunden Leben wird eine neue Harmonie sich in ihm offenbaren, die Harmonie höherer Ebenen widerspiegelnd, die ihm die Vollkommenheit der Proportionen und die ideale Formschönheit geben wird. Und diese Harmonie wird beständig reicher werden, denn die Wahrheit des Wesens ist nicht unveränderlich. Sie ist die unaufhörliche Entfaltung einer wachsenden Vollkommenheit, die immer weiter und umfassender wird. Sobald der Körper gelernt haben wird, dieser harmonisierenden Bewegung zu folgen, wird es ihm gelingen, durch eine ununterbrochene Verwandlung der unerbittlichen Zersetzung und Zerstörung zu entgehen. Das unwiderrufliche Gesetz des Todes wird dann aufgehört haben zu gelten.
Wenn wir diesen Grad der Vollkommenheit, der unser Ziel ist, erreicht haben werden, können wir erkennen, dass die Wahrheit, die wir suchen, vier Hauptaspekte hat: Liebe, Wissen, Macht und Schönheit. Diese vier Eigenschaften der Wahrheit werden in unserem Sein spontan zum Ausdruck kommen. Die Seele wird der Träger der wahren und reinen Liebe sein, das Denken der Träger des unfehlbaren Wissens, das Vitale wird die unbesiegbare Kraft und Macht offenbaren, und der Körper wird zum Ausdruck einer vollendeten Schönheit und Harmonie.
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Worte der Mutter
„Sich kennen und sich meistern“, was heißt das?
Das heißt, sich seiner inneren Wahrheit bewusst sein, der verschiedenen Teile seines Wesens und ihres Wirkens. Man muss wissen, warum man dies tut, warum jenes: Man muss seine Gedanken kennen, seine Gefühle, all seine Handlungen, all seine Regungen, das, wozu man fähig ist, und so weiter. Und sich zu kennen genügt nicht: Dies Wissen muss eine bewusste Meisterung mit sich bringen. Sich vollkommen kennen heißt, sich vollkommen meistern.
Aber das braucht ein beständiges Streben. Es ist nie zu früh zum Anfangen, nie zu spät zum Fortfahren. Sogar wenn du noch ganz klein bist, kannst du beginnen, dich zu erforschen und zu erkennen und nach und nach zu meistern. Und sogar dann, wenn du sogenannt „alt“ bist, recht betagt bist, ist es nicht zu spät, die Anstrengung zu machen, sich immer besser zu erkennen und immer besser zu meistern. Das ist die Wissenschaft vom Leben.
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