*
Das verwirklichte mentale Wesen und das verwirklichte spirituelle Wesen sind zwei verschiedene Ebenen in der Ordnung unserer Existenz. Die eine ist übergeordnet und göttlich, die andere untergeordnet und menschlich. Zu der ersteren, der göttlichen Ebene, gehören die vier göttlichen Prinzipien: das unendliche Sein, das unendliche Bewusstsein und sein Wille, die unendliche Seligkeit und das unendliche, umfassende, aus dem Selbst wirksame Wissen des Supramentals. Zum mentalen Wesen gehören die drei menschlichen Prinzipien: das mentale, das vitale und das physische Wesen. So wie diese Prinzipien in ihrer Natur in Erscheinung treten, sind die beiden Wesensarten einander entgegengesetzt; das eine ist die Umkehrung des anderen. Das göttliche Wesen ist unendlich und unsterblich; das menschliche ist das in Zeit, Feld und Form begrenzte Leben. Es ist Leben, das eigentlich Tod ist und danach strebt, Leben zu werden, das Unsterblichkeit ist. Das göttliche Wesen ist ein unendliches Bewusstsein, das über alles hinausgeht und alles umfasst, was es in sich manifestiert. Das menschliche ist Bewusstsein, das aus dem Schlaf des Unbewussten errettet wurde. Es ist den Mitteln, die es verwendet, unterworfen und durch den Körper und das Ego begrenzt. Es sucht Beziehung zum Bewusstsein anderer Wesen, zu ihrem Körper und ihrem Ego durch verschiedene Mittel: auf positive Weise durch zur Einheit führenden Kontakt und Sympathie, auf negative Weise durch verschiedene Arten feindlichen Zusammenstoßes und Antipathie. Das göttliche Wesen ist unveränderliche Selbst-Seligkeit und unverletzliche All-Seligkeit. Das menschliche Wesen ist eine Empfindung des Mentals und des Körpers, die nach Seligkeit suchen, aber nur Lust, Gleichgültigkeit und Schmerz finden. Das göttliche Wesen ist ein alles umfassendes supramentales Wissen und ein alles bewirkender supramentaler Wille. Das menschliche Wesen ist Unwissenheit, die nach Wissen dadurch strebt, dass sie die Dinge in Teilen und Bruchstücken verstehen kann, die sie dann ungeschickt zusammensetzen muss. Es ist ein Unvermögen, das dadurch Kraft und Willen zu erwerben sucht, dass es seine Macht stufenweise entsprechend der allmählichen Ausweitung seines Wissens ausdehnt. Diese Ausdehnung kann es aber nur durch partielle, stückweise Willensübung fertigbringen, die der partiellen und stückweisen Methode seines Wissens entspricht. Das göttliche Wesen gründet sich auf Einheit und ist Meister über die Transzendenz und Totalität der Dinge. Das menschliche Wesen gründet sich auf eine gesonderte Vielfalt und ist auch dann den Dingen unterworfen, wenn es Meister ihrer Trennung, ihrer Zerteilung und des schwierigen Versuches ist, das Zerteilte zusammenzuflicken und zu vereinen. Zwischen beiden Wesensarten gibt es für das menschliche einen Vorhang und einen Verschluss, die es nicht erst daran hindern, das göttliche Wesen zu erlangen, sondern schon, es zu erkennen.
*
Unter allen Geschöpfen der Erde ist es allein für den Menschen notwendig, um richtig zu leben, die rechte Erkenntnis zu haben, sei es dadurch, dass er, wie es der Rationalismus behauptet, allein oder vorwiegend die Erkenntnismittel seiner Vernunft verwendet, sei es – umfassender und vielseitiger – durch Einsatz all seiner Befähigungen. Was er erkennen muss, ist die wahre Natur seines Wesens und wie sich diese ständig in den Werten des Lebens zur Auswirkung bringt. Weniger abstrakt gesprochen: Er muss das Gesetz der Natur, besonders seiner eigenen Natur, ebenso die Kräfte, die in seinem Inneren und in seiner Umgebung wirken, verstehen. Dadurch soll er lernen, sie zu seiner höheren Vervollkommnung und Freude, für die eigene wie für die höhere Vervollkommnung und Freude seiner Mitgeschöpfe zu verwenden. Nach einem alten Wort ist es seine Aufgabe, im Einklang mit der Natur leben zu lernen. Jedoch dürfen wir uns unter „Natur“ nicht mehr, wie man das einst tat, eine ewige gerechte Ordnung vorstellen, von der der Mensch abgeirrt ist, denn die Natur ändert sich dauernd. Sie macht Fortschritte, entwickelt sich und steigt von Stufe zu Stufe empor. So dehnt sie ihre Möglichkeiten und Grenzen weiter aus. Doch herrschen bei dieser stetigen Verwandlung bestimmte ewige Grundsätze oder Wahrheiten des Seins, die stets dieselben bleiben. Unser Fortschritt und unsere Vervollkommnung müssen sich auf diesen ewigen Grundsätzen wie auf einem Fundament von Urgestein vollziehen, und diese sind ihr eigentliches Material und ihre Grundstruktur. Sonst würde ein unendliches Chaos herrschen und nicht eine Welt, die selbst noch im Zusammenprall ihrer Kräfte von Ordnung bestimmt wird.
Das Tier- und Pflanzenleben unterhalb des menschlichen Bereichs ist diesem Zwang zur Erkenntnis nicht unterworfen. Darum wird von ihm auch nicht jener notwendige Begleiter der Erkenntnis gefordert, der bewusste Wille, der das ausführen muss, was die Erkenntnis als richtig wahrnimmt. Dank dieser Freistellung bleibt dem Pflanzen- und Tierleben eine Masse von Irrtum, Verzerrung und Krankheit erspart. Es entwickelt sich spontan im Einklang mit der Natur. Seine Erkenntnis und sein Wille sind die ihrigen und können weder bewusst noch unbewusst von ihren Gesetzen und Geboten abweichen. Im Gegensatz dazu scheint der Mensch die Macht zu haben, seine mentalen Kräfte und seinen Willen der Natur gegenüberzustellen. Dadurch wird es ihm möglich, ihre Prozesse zu lenken, sie gar auf einen Kurs zu dirigieren, der verschieden ist von dem, den sie ihm sonst vorschreibt. Wenn man dies aber so ausdrückt, fällt man einem Trick der Sprache zum Opfer. Denn die mentale Struktur des Menschen ist selbst Teil der Natur. Die mentalen Kräfte sind geradezu der wichtigste, wenn auch nicht umfassendste Teil seines Wesens. Das Mental-Bewusstsein ist gewissermaßen die Natur, die sich ihrer eigenen Gesetze und Kräfte zum Teil bewusst geworden ist. Sie ist sich im Bewusstsein des Menschen ihres eigenen Ringens um das Vorwärtsschreiten der Evolution bewusst geworden. Sie wird von einem bewussten Willen inspiriert, ihren eigenen Lebensvorgängen und Daseinsabläufen ein immer höheres Gesetz aufzuerlegen. Im Leben auf der Ebene unterhalb des Menschen gibt es nur einen vitalen und physischen Kampf, keinen mentalen Konflikt. Der Mensch dagegen ist diesem mentalen Konflikt unterworfen und steht darum nicht nur mit den anderen, sondern auch mit sich selbst im Widerstreit. Zu diesem Ringen mit sich selbst fähig, hat er jenen Vorzug, der dem Tier versagt ist: Er kann eine innere Evolution durchmachen, Fortschritte vom höheren zu immer höherem Typus. Er kann auf diese Weise ständig über sich selbst hinauswachsen.
*
Der Mensch beginnt seine Entwicklung nach oben als der vitale und physisch tierhafte Mensch. Es ist aber die wahre Aufgabe des Menschen auf der Erde, im Typus des Menschenwesens ein immer deutlicher hervortretendes Ebenbild des Göttlichen zum Ausdruck zu bringen. Ob er es weiß oder nicht, so wirkt doch die Natur unter der dichten Verhüllung durch ihre inneren und äußeren Vorgänge auf dieses Ziel hin. Der materielle oder tierhafte Mensch weiß aber nichts vom inneren Sinn und Ziel des Lebens. Er kennt nur dessen Bedürfnisse und Begehren und hat darum notwendigerweise für das, was von ihm verlangt wird, keinen anderen Führer als sein eigenes Empfinden des für ihn Notwendigen und das Drängen seines eigenen Begehrens, das ihm den Weg weist. Das erste natürliche Gebot für seine Lebensführung muss also sein, vor allem die Ansprüche und Bedürfnisse seines Körpers und seines Vitals zu befriedigen. Danach muss er alle emotionalen und mentalen Sehnsüchte, die Vorstellungen seiner Phantasie oder die dynamischen Erkenntnisse, die in ihm aufsteigen, verwirklichen. Diesen drängenden natürlichen Anspruch kann allein (durch Abänderung oder Widerspruch) das übergeordnete ausgleichende Gesetz einschränken, jene Forderungen, welche die Ideen, Bedürfnisse und Wünsche seiner Familie, seiner Gemeinschaft oder seines Stammes, also die Herde und das Rudel, deren Glied er ist, an ihn richten.
Читать дальше