Inzwischen war er zur Besinnung gelangt.
Er hatte Hasards Messer an der Kehle gefühlt, als es dem Seewolf gelungen war, sich von den Fesseln zu befreien, und er hatte erlebt, daß der Seewolf keinen Wehrlosen tötete, nicht einmal in einer aussichtslosen Situation, nicht einmal einen Mann, den zu hassen er allen Grund hatte. Diese Haltung vor allem war es gewesen, die El Vasco die Niedertracht seines eigenen Verrats hatte begreifen lassen. Die beiden Männer waren sich einig geworden und hatten sich die Hand gereicht – genau in dem Augenblick, in dem die Zwillinge damit begannen, die baskischen Wächter mit Steinen zu bombardieren und im Handstreich die übrigen Gefangenen zu befreien.
Als die Männer von der „Isabella“ und der „Hoek van Holland“ anrückten, außer sich wegen des Verschwindens der beiden Kinder und finster entschlossen, notfalls das ganze Plateau abzutragen, gab es schon keinen Grund mehr zum Kämpfen.
Klar, daß die Seewölfe und die Geusen über diese Entwicklung erleichtert waren, auch wenn es ein paar von ihnen mächtig in den Fäusten juckte und sie El Vasco immer noch scheele Blicke zuwarfen. Doch die meisten baskischen Rebellen schienen kaum weniger erleichtert, daß nun alles anders kam. Es gab viele Unter ihnen, die von Anfang an offen gegen den Plan gestimmt hatten, und manche, die sich nur unter heftigen Gewissensbissen mit dem Verrat abfinden konnten.
Jetzt würden sie den geraden Weg gehen und offen und ehrlich kämpfen wie aufrechte Männer.
Und sie hatten eine Chance!
Der Plan, den der schwarzhaarige Riese mit den eisblauen Augen da entwickelte, war verblüffend einfach und versprach alle Aussichten auf Erfolg. Jedenfalls wenn er von Männern ausgeführt wurde, die weder Tod noch Teufel fürchteten und nichts weiter dabei fanden, die Hölle mit einem Eimer Wasser anzugreifen. Männer wie die Seewölfe und die Wassergeusen! Und wie die baskischen Rebellen, die mit ihrem unterirdischen Gang in die äußeren Festungsanlagen von Portugalete ja auch schon bewiesen hatten, daß sie notfalls bereit waren, den Teufel am Schwanz zu ziehen.
Hasard hielt einen schmalen spanischen Parierdolch in der Hand und zeichnete mit der nadelscharfen Spitze Linien in den Staub zu seinen Füßen.
Die Küste, die Bucht von Bilbao, den Außenhafen, einen groben Grundriß der Festung. Sie hatten sich das mächtige Bauwerk angesehen, die Männer des Spähtrupps, die dann später von den Basken überfallen worden waren. Sie wußten, wo der Kerker und die Folterkammern lagen, sie wußten, wo die mächtigen siebzehnpfündigen Eisenkugeln aus den Culverinen der „Isabella“ und der „Hoek van Holland“ in die Mauern schlagen mußten, Um ihnen einen Weg freizuhämmern. Und vor allem kannten sie das Haus innerhalb der weitläufigen Festungsanlage, in dem sich Benito Uvalde zu verkriechen pflegte. Weil er unter der baskischen Bevölkerung nämlich so ungeheuer beliebt war, daß er sich aus Furcht vor Anschlägen auf sein Leben nur selten in der Hafenkommandantur oder seinem Palacio in Bilbao aufhielt.
„Uvalde hat den Schlüssel für die Folterkammer bei sich“, sagte der Seewolf ruhig. „Als wir dort waren, hat er Van Helder über Nacht an die Wand ketten lassen.“ Er blickte El Vasco an. „Ist das das übliche Verfahren?“
Der kleine, breitschultrige Baske kniff die Augen zusammen. Sein zerknittertes Gesicht war maskenhaft starr. Daß der Seewolf ihn trotz allem als Parnter akzeptierte, wirklich akzeptierte – diese Tatsache mußte er erst noch verdauen.
„Kommt darauf an“, sagte er langsam. „Es ist eine besonders gemeine Methode, die Uvalde anwendet, wenn er nicht riskieren will, daß seine Opfer dem Henker unter den Händen sterben. Bei den Geusen will er das bestimmt nicht riskieren und bei meinem Bruder vermutlich auch nicht.“
„Also müssen wir damit rechnen, daß es notwendig wird, in die Folterkammer einzudringen?“
„Ja. Und dazu brauchen wir entweder den Schlüssel oder so viel Schwarzpulver, daß es vermutlich auch den Gefangenen das Leben kosten würde.“
„Den Schlüssel kriegen wir schon.“ Hasard lächelte und zeigte seine blitzenden Zähne. „Den Kerker werden uns die Wächter öffnen. Und die entscheidende Rolle spielt dann euer unterirdischer Gang. Die Spanier werden jedes Loch in der Mauer bewachen, während wir längst weg sind.“
„Klingt gut“, sagte El Vasco langsam. „Und es ist die einzige Möglichkeit. Es geht nicht ohne Kanonade.“
Hasard nickte.
Neben ihm kauerte Al Conroy, der Stückmeister, und betrachtete aus schmalen Augen die Skizze im Staub. Er wollte etwas sagen, aber er kam nicht mehr dazu, weil im selben Moment von Norden her aufgeregte Schreie herübergellten.
Die baskischen Wächter.
Hasard verstand die Worte nicht, da sie ihr heimisches Eskuara benutzten. Aber er sah, wie El Vasco mit einem Ruck den Kopf hochriß, wie sich seine Haltung spannte und die Gesichter seiner Kameraden blaß wurden.
„Spanier!“ zischte der Rebellenführer. „Die Spanier rücken an!“
Hastig sprang er auf. Die meisten anderen Männer folgten seinem Beispiel. Die Zwillinge, von der allgemeinen Erregung aufgeweckt, schnellten hoch wie Kastenteufelchen und warfen wilde Blicke um sich.
„Shane, Dan – ihr bleibt mit den beiden hier!“ befahl Hasard knapp.
Der junge O’Flynn fluchte, aber er tat es nur in unverständlichem Flüsterton – bei einem gewissen Tonfall in der Stimme des Seewolfs war es besser, keine Diskussionen anzufangen. Big Old Shane packte die beiden Jungen am Kragen und drückte sie energisch wieder auf ihren Platz zurück. Und sie mucksten sich nicht. So vorwitzig sie waren, diesen gewissen Tonfall in der Stimme ihres Vaters kannten sie bereits.
Minuten später huschten Hasard, Ed Carberry, Jan Joerdans und El Vasco zwischen den Felsen zu der steil abfallenden Wand hinüber, die das Plateau im Norden begrenzte.
Die anderen waren in einiger Entfernung zurückgeblieben. Noch war die Lage völlig unklar. Und falls sich nur ein spanischer Spähtrupp näherte, brauchte man ihn ja nicht gerade durch eine aufgeregte Menschenansammlung zu alarmieren.
Von wegen Spähtrupp, dachte Hasard eine Minute später erbittert.
Was da heranzog, war schon eher eine Armee. Soldaten in weit auseinandergefächerter Scharfschützen-Formation. Drei mächtige Kanonen auf rumpelnden Wagen, von Maultiergespannen gezogen. Ein halbes Dutzend Offiziere, das eben noch an der Spitze geritten war, übte sich jetzt in vornehmer Zurückhaltung. Und das bewies deutlicher als alles andere, daß die Spanier sehr genau wußten, was sie dort oben auf der Mesa erwartete.
„Halleluja“, sagte Ed Carberry ergriffen.
El Vasco sagte etwas auf Eskuara. Der Seewolf verstand es nicht. Aber er hätte geschworen, daß es ein ganz besonders lästerlicher Fluch war.
Der spanische Offizier, der das Unternehmen leitete, trug den schönen Namen José Maria Antonio Felipe y Gomez de Madre-Castillo.
Er war klein und dürr und häßlich. Niemand, der ihn sah, hätte einen hervorragenden Offizier Seiner Allerkatholischsten Majestät in ihm vermutet. Und eben deshalb mußte er immer etwas besser sein als alle anderen. Vor allem, wenn es galt, seine Leute anzutreiben und tollkühne Pläne zu entwerfen. Tollkühne Pläne, bei denen dann meist andere den Kopf hinhalten mußten, die vielleicht selbst der Ansicht waren, daß bisweilen Vorsicht der bessere Teil der Tapferkeit sei.
Selbst den Kopf hinhalten, das konnte José Maria Antonio Felipe nicht. Er hätte riskiert, daß seine kunstvolle Lockenperücke verrutschte. Und die üppigen weißen Rüschen an seinen Ärmeln waren im Kampf auch eher hinderlich. Aber dafür wirkten sie sehr eindrucksvoll, wenn er – so wie jetzt – mit großer Geste die Arme schwenkte.
„Eine Kanone dort auf die Felsen! Eine dort – und eine da drüben! Adelante, adelante!“
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