Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-029-9
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Sean Beaufort
Die Schiffe der Verzweifelten
Unter Deck herrschen Siechtum und hilflose Wut – und noch immer kein Land in Sicht
Die Schebecke, die „Explorer“ und die „Pilgrim“ kämpften sich durch die trostlosen Tage und über den Atlantik. Der Seewolf wußte, daß sie überleben würden. Aber um welchen Preis! Auch er wollte nichts anderes hören als den Schrei: „Land in Sicht!“
Hinter der Kimm lag Land. Dort würden sie Wasser finden und einen saftigen Braten jagen können. Wann war es soweit? Wie viele mußten noch sterben?
Auch an Deck der Schebecke breitete sich Verzweiflung aus. Wann war die Verzweiflungsfahrt endlich beendet?
Niemand konnte es sagen …
Die Hauptpersonen des Romans:
Dan O’Flynn– als guter Navigator ist er davon überzeugt, daß bald Land gesichtet werden müsse. Er meint sogar, es schon zu riechen.
Little John– der kleine Sohn der Fletcher-Familie mausert sich kräftig zum Schiffsjungen auf der Schebecke.
Susan Fletcher– seine Mutter geht dem Kutscher und Mac Pellew in der Kombüse zur Hand und ist für strikte Sauberkeit.
Edwin Carberry– der Profos sorgt dafür, daß die Kerle auf der „Explorer“ nicht zu üppig werden – auf seine „freundliche“ Art.
Jenkins– der Decksmann auf der „Explorer“ ist es, der „Land in Sicht“ meldet.
Philip Hasard Killigrew– der Seewolf kann aufatmen, als sie in einer Bucht ankern. Aber seine Sorgen hören nicht auf.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
„Es gibt nicht das geringste Zeichen, daß wir uns der Küste nähern. Ich meine irgendeine Küste. Land, Strand, Flußmündung oder meinetwegen Felsen oder Klippen. Nichts.“
Kapitän Philip Hasard Killigrews Stimme war rauh vor Ärger und Enttäuschung. Das Maß der vernichtenden Zwischenfälle war übervoll. Der Seewolf glaubte, daß es noch schlimmer werden würde. Die „Discoverer“ und die Karavelle ruhten zertrümmert und voller ertrunkener Opfer auf dem Grund des Atlantiks. Und auf den übriggebliebenen Galeonen herrschte nun endgültig die Vorhölle.
„Aber wir segeln in Küstennähe, Sir“, beharrte Dan O’Flynn. „Ich irre mich nicht, wenn ich einen Kurs zwei Dutzend Male berechne. Jeden Augenblick muß dort ein Teil der Küste auftauchen.“
„Hast du vielleicht einen einzigen Vogel gesehen?“ fragte Hasard, der seine Ratlosigkeit nicht verbarg.
„Ja. Aber leider nur nach dem Außersichtkommen Englands. Nicht in den letzten Stunden“, erwiderte Dan gallig.
Der kleine Verband, zusammengeschrumpft und auf gegenseitige Hilfe angewiesen, blieb nach den mörderischen Zwischenfällen, nach dem Sturm und dem vernichtenden Seegefecht dicht zusammen. Die beiden Galeonen segelten, zwei Kabellängen voneinander entfernt, in Kiellinie.
Die Schebecke blieb achterlich in Luv, und die Seewölfe beobachteten die „Pilgrim“ und die „Explorer“ fast unausgesetzt.
„Scherzbold“, brummelte der Seewolf.
Die Seeleute kannten viele unterschiedliche Zeichen, die auf die Nähe von Land hinwiesen. Fischende Vögel galten zu Recht als ein Hinweis, der in wenigen Tagen mit großer Sicherheit den Anblick einer Küste versprach. Aber unterschiedliche Wolkenformationen, Wetteränderungen, bestimmte Gerüche, die der Wind mit sich brachte und Strömungen, in denen Dinge trieben, die vom nahen Land stammten – nichts dergleichen hatten die Seewölfe entdecken können. Die ersehnte Küste Virginias war also noch weiter entfernt, als man sich vorstellte, als jedermann mit allen seinen Sinnen herbeibetete.
„Im Ernst“, sagte Dan und ließ das Spektiv voller Enttäuschung sinken. „Es ist seltsam.“
„Seltsam?“ fragte Hasard.
„Wir müßten längst Land voraus haben. Selbst wenn wir nicht geradewegs auf die zerklüftete Virginia-Küste stoßen, sollten wir weiter nördlich Land sichten. Denn zu weit südlich sind wir nicht abgetrieben. Jeder Kapitän kann das bestätigen. Der Sonnenstand und die Sterne – wir waren viel langsamer als geplant.“
„Das wird es wohl sein“, bestätigte Hasard.
Die Karten, über die Dan O’Flynn verfügte, waren vergleichsweise genau, aber wiederum nicht so gut, wie sie hätten sein müssen. Nach zahllosen Berechnungen, deren Ergebnisse auch mit Drinkwater und Toolan ausgetauscht und durchgesprochen worden waren, meinte jeder, daß binnen einer Woche die schauerliche Fahrt zu Ende sein würde – wenigstens in dem Sinn, daß die Schiffe ankern und die Besatzungen und Passagiere an Land gehen konnten.
„Also knüppeln wir so weiter wie bisher“, schlug Dan vor. Es sollte aufmunternd klingen, aber die Wirkung war gering.
Der Crew, deren Heimat die Schebecke war, ging es vergleichsweise hervorragend. Der Proviant hatte natürlich drastisch abgenommen, aber jeder wurde noch satt und hatte genug zu trinken. Dies galt ebenso für die drei kleinlaut gewordenen Gentlemen und die fünfköpfige Familie Fletcher, die nicht müde wurde, ihr Glück zu preisen.
„Was sonst?“ erwiderte Hasard. Auch er war mit den herrschenden Zuständen mehr als unzufrieden. Von Tag zu Tag starben mehr Menschen auf den Galeonen. Die Anzahl der Kranken wuchs.
Hasard zerkaute einen Fluch zwischen den Lippen und meinte schließlich, als wäre es ein ausreichender Trost: „Wenigstens haben wir heute gutes Wetter und Sonnenschein.“
„Ein Zeichen, daß wir uns dem Land nähern?“
„Kaum.“
Eine große, dunkelgelbe Sonne hing im Osten eine knappe Handbreite über der Kimm. Der letzte Nachtwind hatte den Himmel leergefegt. Er spannte sich in einem hellen, strahlenden Blau über dem dunklen Wasser und schien das Leid der vielen Menschen verspotten zu wollen. Dazu kamen die heiteren Schaumkämme auf den Wellen, die Ungefährlichkeit und fröhliche Seefahrt versinnbildlichten.
„Aber es erleichtert etwas das Leben, das gute Wetter“, versuchte Dan einen weiteren schwachen Trost auszusprechen.
„Besonders die Sterbenden freuen sich darüber.“
Hasard erlaubte sich keinen Scherz. Seine Bemerkung klang bitter. Der Umstand, daß auch auf der Schebecke die Vorräte mehr als knapp geworden waren, lag darin, daß der Kutscher und Mac Pellew einen Teil davon an die beiden Galeonen abgegeben hatten.
Dan und Hasard standen auf der Back der Schebecke, sogen die frische Luft tief in ihre Lungen und federten die weichen Bewegungen ab, mit denen das Schiff in die Wellen einsetzte. Ihre Gedanken kreisten unausgesetzt um dasselbe Thema, über das auch alle anderen Seewölfe ständig sprachen: Wie lange dauerte es noch, bis sich das Land hinter der Kimm heraufschob?
Für die Crews und die Auswanderer bedeutete diese Frage inzwischen den Unterschied zwischen Leben und Tod.
Weder Dan noch Hasard hielten viel davon, über die Vergangenheit zu sprechen. Die Zukunft war weitaus wichtiger, jede Stunde an diesem Tag konnte neue Aufgaben und Abenteuer bringen. Piet Straaten stand an der Pinne. Der Kurs lag klar an: So schnell wie möglich zur „Pilgrim“ und dort längsseits gehen. So war es mit Kapitän James Drinkwater abgesprochen.
„Was tun wir, wenn es noch länger dauert, Sir?“ fragte Dan bekümmert.
„Nichts anderes als das, was wir immer unternommen haben“, gab Hasard zur Antwort. „Wir sorgen für die anderen, ohne uns selbst zu gefährden.“
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