„Los, wir laufen zum Dorf“, sagte Olivaro.
Einer seiner Kerle lachte höhnisch. „Damit sie uns auch abknallen, was?“
„Hau doch ab, Olivaro“, sagte sein Nebenmann. „Du bist eine Null. Mit dir wollen wir nichts mehr zu tun haben. Du kannst noch froh sein, daß wir dich nicht abstechen. Du hast die ganze Bande verheizt. Und was ist dabei rausgekommen? Nichts.“
Ohne jegliche Vorwarnung warf sich Olivaro auf den Kerl. Er stach zweimal mit dem Messer zu. Blutend sank der Kerl auf den Strand. Olivaro fuhr zu den anderen herum.
Die drei trafen Anstalten, sich auf ihren Anführer zu stürzen. Aber sie bezwangen sich. Sie wußten, wie stark Olivaro war und wie gut er mit dem Messer umzugehen verstand.
„Was ist?“ fuhr Olivaro die Kerle an. „Hat noch einer was zu vermelden? Los, kommt doch her!“
Sie zögerten.
Er lachte. „Da seht ihr’s, was für feige Hunde ihr seid. Memmen! Mir wollt ihr die Schuld geben? Ihr habt versagt! Nur euch und den anderen dreckigen Bastarden, die jetzt tot sind, habe ich es zu verdanken, daß wir gegen die Feinde verloren haben.“
„Das stimmt nicht!“ begehrte einer der drei auf.
Olivaro war mit einem pantherhaften Satz bei ihm und drückte ihm die Messerklinge gegen die Gurgel. „Sag das noch mal!“
„Ich …“
„Los, wiederhole es!“ brüllte Olivaro.
„Nein, so habe ich das nicht gemeint!“ stöhnte der Kerl.
„Sondern?“
„Es ist unsere Schuld!“
„Was denn?“
„Daß wir verloren haben!“
Olivaro ließ das Messer sinken und blickte zu den beiden anderen. „Habt ihr noch was zu stänkern?“
„Nein“, antworteten sie gleichzeitig.
„Wer nicht pariert, wird niedergestochen wie ein Schwein“, sagte Olivaro eiskalt. „Ich lasse mich von euch Hurensöhnen nicht beschimpfen, ist das klar?“
„Jawohl“, murmelten die drei.
„Los, jetzt, ab zum Lager!“ befahl Olivaro.
Er lief los, und die drei Piraten folgten ihm. Olivaro hatte wieder einmal bewiesen, daß er mit eiserner Hand zu regieren verstand. Auch wenn er eine gewaltige Niederlage hatte einstecken müssen, so war er doch noch immer der Anführer.
Die Kerle hatten gar keine andere Wahl. Sie mußten gehorchen. Meutern hatte keinen Sinn, abhauen auch nicht. Olivaro würde sie einen nach dem anderen töten. Und das Risiko wollten sie nicht eingehen. Sie wollten leben.
Olivaro wußte, daß er eine Menge Zeit verloren hatte. Aber noch konnte er es schaffen, den Schlupfwinkel vor den Feinden zu erreichen. Wie ein Besessener hastete er die Hügel hinauf und raste durch den Wald. Die Schatulle, dachte er immer wieder, ich muß sie wiederhaben!
Die Schebecke kreuzte gegen den Wind. Hasards Bestreben war es jetzt, so schnell wie möglich den Hafen der Piraten zu erreichen. Er wollte auch die letzten Piraten, die dort möglicherweise lauerten, vertreiben. Nach allem Dafürhalten schien es sich bei dem Dorf um eine Fischersiedlung zu halten.
Batuti hatte sich bestimmt nicht geirrt, als er von der Korkeiche Ausschau gehalten hatte. Folglich hatten die Piraten die Fischer entweder getötet, als sie das Dorf vereinnahmt hatten, oder aber sie hatten sie vertrieben. Es gab noch eine dritte Möglichkeit: Die Fischer und ihre Familien wurden von den Piraten gefangengehalten.
Über diesen Punkt wollte sich der Seewolf unbedingt Gewißheit verschaffen. Wenn es Menschen gab, denen er helfen konnte, dann sah er es als seine Pflicht an, dies zu tun.
Das Dorf und der Hafen gerieten in Sicht. Am Ufer waren die Boote zu erkennen. Sonst gab es keine anderen Wasserfahrzeuge – den Verband der Piraten hatten die Arwenacks ja vernichtet.
„Da sind Menschen!“ meldete Bill.
Er spähte scharf durch den Kieker. Die rollenden Schiffsbewegungen erleichterten es ihm nicht gerade, Einzelheiten zu erkennen.
„Piraten?“ rief der Seewolf.
„Nein, Sir! Das scheinen eher Fischer zu sein!“
„Und bei ihnen befindet sich ein Mann in Uniform!“ stieß Dan O’Flynn hervor, der ebenfalls mit dem Rohr zum Ufer blickte. „Und ein Mädchen!“
„Stimmt!“ pflichtete Bill ihm bei. „Der Uniform nach scheint der Mann ein Engländer zu sein! Ein englischer Kapitän!“
„Hölle und Teufel!“ brüllte Carberry. „Das kann nicht wahr sein!“
„Kurs auf die Bucht!“ befahl der Seewolf.
Kurz darauf ging die Schebecke in der Bucht vor Anker. Hasard, Ben, Carberry und Shane pullten zum Ufer und gingen an Land. Sie sahen, daß sich die Menschen zwischen den Hütten zögernd und mißtrauisch verhielten.
Hasard trat jedoch auf sie zu und rief auf spanisch: „Wir sind Freunde! Wir haben soeben die Piraten besiegt! Wir wollen euch helfen!“ Dasselbe wiederholte er auf englisch.
Burl Ives reagierte als erster. Er tat einen Schritt auf den Seewolf und dessen Kameraden zu und sagte: „Sind Sie Engländer?“
„Aye, Sir“, erwiderte Ben Brighton lächelnd. „Kapitän Philip Hasard Killigrew und seine Crew.“
„Das gibt es nicht!“ stieß Ives entgeistert hervor. Dann straffte er sich und sagte: „Mein Name ist Burl Ives, ich bin der Kapitän der ‚Samanta‘. Dies hier ist Miß Farah Acton, meine Passagierin.“ Er zog das Mädchen an der Hand zu sich heran.
Hasard, Ben, Shane und der Profos schüttelten den beiden die Hände. Inzwischen hatten sich die Fischer langsam genähert. Mit staunenden Mienen lauschten sie der Unterhaltung, von der sie kein Wort verstanden.
„Es ist ungewöhnlich, eine junge Dame an Bord eines Segelschiffes anzutreffen“, sagte der Seewolf und lächelte Farah zu.
Sie errötete.
Burl Ives erwiderte: „Harold Acton und seine Tochter Farah gingen in Bristol an Bord. Nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren wollte Mister Acton in ein südliches Klima umsiedeln, da er gesundheitliche Schwierigkeiten hatte. In Italien wollten die beiden seßhaft werden. Doch leider gerieten wir in den Sturm, der mein Schiff, die ‚Samanta‘, auf diese Küste warf. Dann wurden wir von den Piraten überfallen.“
„Sie haben alle getötet, auch Mister Acton?“ erkundigte sich der Seewolf.
Ives berichtete wieder, wie sich alles zugetragen hatte. Farah begann leise zu weinen. Der Kapitän legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.
„Es tut mir sehr leid, daß Sie Ihren Vater verloren haben“, sagte Hasard zu dem Mädchen. „Doch seien Sie froh, daß Sie noch leben und Kapitän Ives Sie durch seinen mutigen Einsatz vor der Gewalt der Piraten beschützt hat.“
Farah blickte zu Hasard auf.
„Sie haben recht, Mister Killigrew“, entgegnete sie leise. „Ich bin dankbar dafür, und ich werde Kapitän Ives das, was er für mich getan hat, nie vergessen.“
Nun war es an Ives, verlegen zu werden. Er räusperte sich und wußte nicht mehr, wohin er schauen sollte. Zum Glück griff Ben Brighton ein. Er erzählte, wie das Gefecht gegen Olivaros Bande verlaufen war.
Hasard wandte sich an die Spanier. Zunächst nannte er seinen Namen und stellte seine Mannen vor. Dann erfuhr er von Domingo Calafuria, welche Begebenheiten sich im Dorf abgespielt hatten.
„Ich bedaure nur, daß wir nicht schon eher erschienen sind“, sagte der Seewolf daraufhin.
Domingo Calafuria lächelte. „Ohne Sie und Ihre Mannschaft, Señor, hätten wir niemals gegen diese Bande von Teufeln siegen können. Sie haben uns gerettet.“
„Sind denn wirklich alle tot?“ fragte Rodrigo.
„Es hat Überlebende gegeben“, erwiderte Hasard. „Ich vermute, daß die meisten ertrinken. Aber es ist damit zu rechnen, daß sich einige an Land retten.“
„Himmel“, sagte Hernán Zorba. „Wir müssen sie finden!“
„Gibt es hier im Dorf noch etwas zu holen?“ fragte Hasard.
„Was meinen Sie, Señor?“ Domingo setzte eine etwas ratlose Miene auf.
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