Noch bevor der Profos antworten konnte, ließ ihn, wie auch die drei anderen Männer, ein plötzliches Rauschen im Wasser herumfahren.
Ganz in der Nähe der Stelle, an der der Kaiman ins Wasser geglitten war, brodelte und kochte es plötzlich. Augenblicklich wurde den Seewölfen klar, was sich dort abspielte. Es erfüllte sich das Gesetz des Regenwaldes: fressen und gefressen werden.
Piranhas, jene kleinen stumpfgesichtigen Fische mit den rasiermesserscharfen Zähnen, hatten Blut gewittert. Ganz plötzlich waren sie da, wie aus dem Nichts herbeigezaubert. Das Wasser wurde aufgewühlt und färbte sich stellenweise rot vom Blut des Kaimans, von dem nach Minuten nicht mehr als das Skelett übrigbleiben würde.
Das Reptil schlug wild um sich, als der riesige Schwarm der kleinen silbrigen Fische mit ihren scherenartigen Gebissen Stücke aus seinem Fleisch heraussägte. Aber die Kraft des Mohrenkaimans erlahmte schnell. Bald war das grausige Schauspiel vorbei, das die vier Männer auf der Sandbank wie gebannt beobachtet hatten.
Jetzt konnten sie sich wieder lebhaft vorstellen, wie Jeff Bowie, der zur Besatzung der „Isabella“ gehörte, zu seiner Hakenprothese an der linken Hand gekommen war. Piranhas hatten ihm die Hand vor Jahren zerfleischt. Der gute Jeff konnte noch von Glück sagen, daß es bei der Hand geblieben war.
Nachdem die Seewölfe ihre Schußwaffen nachgeladen hatten, konnten sie sich nun endlich dem Wrack der Galeone zuwenden, das hinter ihnen auf der Sandbank lag, und zwar dort, wo der Landstreifen fast nahtlos in den Mangrovendschungel überging.
Der Anblick, der sich ihren Augen bot, war grausig und ließ selbst hartgesottenen Männern wie Philip Hasard Killigrew, Ed Carberry, Ferris Tucker und Dan O’Flynn eine Gänsehaut über den Nacken kriechen. Der Kampf mit dem Mohrenkaiman hatte ihre Aufmerksamkeit so sehr beansprucht, daß ihnen erst jetzt die Unheimlichkeit und Rätselhaftigkeit des Wracks bewußt wurde.
Was von der Galeone übriggeblieben war, war nur ein Gerippe. Die Beplankung fehlte ganz, und nur die Querspanten ragten nach allen Seiten hervor, so daß man rundum durch das Wrack blicken konnte.
Aber nicht das war es, was die vier Männer von der „Isabella“ für einen Augenblick verstummen ließ, sondern der Hauch des Todes, der über dieser Stätte lag.
Auf dem Kielschwein des Wracks und an den Querspanten hockten ausgebleichte, menschliche Gerippe, als warteten sie darauf, von jemandem abgeholt zu werden. Es waren mehr als ein Dutzend Skelette, die in der Sonne bleichten und dieser Stätte des Todes eine unheimliche Ausstrahlung verliehen – trotz des Lebens im Hintergrund, trotz der vielfältigen Stimmen, die aus dem Dschungeldickicht herüberdrangen. Stumm und aus leeren Augenhöhlen schienen die Toten den Männern entgegenzublicken – eine starre, unbewegliche Gesellschaft, die wie zu einer Versammlung oder einem Palaver in der wracken Galeone beisammenhockte.
Hasard löste sich als erster aus dem Bann, der von dieser Stätte ausging.
„Eine recht merkwürdige Besatzung“, sagte er mit nachdenklichem Gesicht. „Eigentlich ist es unmöglich, daß es sich bei diesen Skeletten um die Besatzung der Galeone handelt. Wie das Wrack aussieht, ist es uralt und muß demnach schon recht lange hier liegen. Ob es ein Sturm hierhergeworfen hat, oder ob es hier angetrieben worden ist – es kann sich unmöglich um die Besatzung handeln, denn die Männer hätten sich bestimmt nicht in dieser versammlungsmäßigen Ordnung zum Sterben auf das Kielschwein gesetzt.“
„Wahrscheinlich nicht“, sagte Dan O’Flynn und legte die Stirn in Falten. „Aber könnte sie nicht eine Seuche hingerafft haben? Ich meine natürlich, nachdem das Schiff hier angetrieben wurde. Es gibt doch genug Krankheiten, die schon ganze Schiffsbesatzungen ausgelöscht haben.“
Hasard schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, Dan. Wir haben zwar schon miterlebt, was Krankheiten wie Skorbut oder das berüchtigte Wechselfieber alles anrichten können, aber in diesem Fall glaube ich nicht an so etwas. Wie die Männer hier sitzen, müßten sie im Fall einer Seuche alle auf einmal gestorben sein. Und das ist sehr unwahrscheinlich.“
„So ist es“, ließ sich nun Ed Carberry vernehmen. „Das würde bedeuten, daß sich immer der Nächste, der mit dem Sterben an der Reihe war, zu den bereits Toten auf das Kielschwein gesetzt hätte, um die Schar zu vergrößern. Nein, Sir, so was gibt es nicht.“
„Warum eigentlich nicht?“ bohrte Dan O’Flynn weiter. „Wenn einer gestorben ist, kann er doch von den noch Lebenden einfach zu den Toten gesetzt worden sein.“
„Theoretisch schon“, sagte Hasard. „Aber praktisch wohl kaum. Die Überlebenden hätten mit Sicherheit die Toten begraben oder der See übergeben, statt sie in das Wrack zu setzen. Wenn man bedenkt, wie schnell in diesen feuchten und heißen Gegenden der Zerfall einer Leiche eintritt, hätten sie sich damit erst recht Seuchen auf den Hals geladen. Der Gedanke dürfte also nicht haltbar sein, Dan.“
Der junge O’Flynn wußte darauf im Moment keine Antwort. Was Hasard da sagte, klang logisch und war nicht von der Hand zu weisen.
Ferris Tucker, der bis jetzt schweigsam und mit fachmännischem Blick die kläglichen Überreste der Galeone gemustert hatte, räusperte sich und fuhr sich nachdenklich durch den dichten roten Haarschopf.
„Eure Überlegungen mögen ja alle mehr oder weniger richtig sein“, sagte er. „Aber es gibt noch eine weitere Version. Nehmen wir einmal an, es handelt sich bei diesen Gerippen um Schiffbrüchige. Könnten sie hier nicht von irgendwelchen Buschmännern oder Indianern überfallen worden sein? Vielleicht hat man sie mit den berüchtigten Giftpfeilen aus dem Hinterhalt getötet und dann die Leichen einfach in das Schiff gesetzt. Das wäre doch auch eine Möglichkeit.“
„Ho!“ rief der Profos. „Unser Holzwurm ist ganz schön schlau. Und ich fresse die dickste Taurolle, wenn es nicht so ist, wie er eben gesagt hat.“
„Na, dann guten Appetit, Ed“, erwiderte Hasard lächelnd. „Meiner Meinung nach kannst du gleich damit beginnen. Schau dir doch mal die Gerippe etwas näher an. Fällt dir da nichts auf?“
Verdutzt trat der Profos näher und tastete die Skelette mit den Augen ab.
„Nun ja“, sagte er dann mit wesentlich leiserer Stimme. „Die Kerle scheinen alle ein wenig klein geraten. Zumindest kleiner als wir. Aber wenn es Dons waren, dann ist es ja kein Wunder. Habe ich nicht schon immer gesagt, daß es Zwerge sind?“
„Nun bleib aber sachlich, Ed“, sagte Hasard. „Es gibt in jedem Volk kleine und große Menschen oder doch zumindest solche, die kleiner und solche, die etwas größer geraten sind. Aber sehen die hier nicht fast alle gleich groß aus?“
„Genaugenommen schon“, erwiderte Ed Carberry unbehaglich und schnitt ein Gesicht, als habe er sich soeben vorgestellt, wie der Kutscher in seiner Kombüse die größte Taurolle für ihn garkochte. „Meinst du …“
Der Kapitän der „Isabella“ nickte. „Ja, es sieht ganz danach aus, als handele es sich um die Gerippe einer kleineren Rasse. Vielleicht um Buschmänner oder Indianer. Nur fragt mich nicht, wie die in das Wrack gelangt sind. Einen tieferen Sinn kann ich auch in dieser Theorie nicht erkennen.“
Die Männer blickten sich an, und ihren braungebrannten, wettergegerbten Gesichtern war deutlich anzusehen, wie es hinter ihren Stirnen arbeitete. Aber niemand schien zur Zeit eine Patentlösung für das Rätsel zu finden, vor dem sie standen. So gingen sie daran, die nähere Umgebung des Wracks abzusuchen.
„Was mag nur mit der Beplankung geschehen sein?“ fragte Dan O’Flynn den Schiffszimmermann.
Doch auch Ferris Tucker zuckte mit den Schultern.
„Wir wissen nicht, in welchem Zustand das Wrack hier angetrieben worden ist“, sagte er. „Was noch übriggeblieben war, kann nach langer Zeit verrottet sein. Aber natürlich kann es auch von Indianern weggetragen worden sein. Eigentlich sieht es mir mehr nach dieser Möglichkeit aus.“
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