Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, stand nach wie vor an seinem Platz. Er hatte das Spektiv ans Auge gesetzt und suchte auf die Meldung Bills hin konzentriert die Küste ab.
„Kannst du etwas sehen?“ fragte Ben Brighton, sein Stellvertreter und der erste Offizier der „Isabella“.
„Hm“, sagte der Seewolf, und sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. „Es scheint eine Galeone zu sein oder vielmehr das, was von ihr übrig ist. Ich kann nur ein Gerippe erkennen. Es scheint dicht vor dem Dschungel auf dem Trockenen zu liegen. Unmittelbar daneben kann ich die Mündung eines kleinen Flusses erkennen.“
„Das Gerippe einer Galeone?“ sinnierte Ben Brighton. „Was hat das nun wieder zu bedeuten?“
„Wir werden versuchen, es festzustellen“, erwiderte Hasard und nahm das Spektiv von den Augen. „Ja, wir werden uns dieses merkwürdige Wrack einmal ansehen.“
Gleich darauf gab er dem Rudergänger Pete Ballie den Befehl, nach Backbord abzufallen und ein Stück tiefer in die Baja de Marajo, in der mehrere größere und kleinere Urwaldflüsse zusammenströmten, zu steuern.
Je weiter sie sich der Küste näherten, desto lauter drangen die Geräusche des Dschungels zu ihnen herüber. Zwischen das anhaltende Geschrei der Brüllaffen, die gewöhnlich zu dieser Jahreszeit durch die Früchte der ChontaPalme fett und träge geworden waren, mischte sich das laute Kreischen von Vögeln.
Die Männer an Bord der „Isabella“ schirmten die Augen mit der flachen Hand ab und versuchten, die Konturen der wracken Galeone zu erkennen.
Selbst Sir John, der karmesinrote Aracanga-Papagei, der einst dem Profos, Ed Carberry, am Amazons zugeflogen war und seitdem die „Isabella“ auf ihren Fahrten durch die Weltmeere begleitete, lief aufgeregt auf seinem Lieblingsplatz, der Vormarsrah, hin und her. Wahrscheinlich hatte das vielstimmige Urwaldkonzert, das pausenlos zum Schiff herüberdröhnte, heimatliche Gefühle in ihm geweckt, was ihn jedoch nicht daran hinderte, einige saftige Flüche vom Stapel zu lassen, die er von seinem Herrn und Meister gelernt hatte.
Endlich war es soweit.
Die „Isabella“ hatte sich dem Wrack bis auf zwei Kabellängen genähert. Nachdem Smoky, der Decksälteste, bereits zweimal Tiefe gelotet hatte, gab der Seewolf den Befehl, die Segel aufzugeien und zu ankern.
Der Anker faßte sofort Grund, denn die „Isabella“ lag in relativ flachem Wasser. Sie befand sich in Sichtweite der wracken Galeone, die direkt auf einer Sandbank lag. Diese zog sich von der Bucht her ein Stück in das Mündungsgebiet eines kleineren Flusses hinein und ging dann in den Dschungel über.
„Sieht nicht gerade aus, als ob da noch was zu reparieren wäre“, stellte Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, mit sachkundiger Miene fest. „Weiß der Teufel, wie lange das Wrack schon dort drüben liegt und was mit seiner Besatzung geschehen ist.“
„Ja, weiß der Teufel“, wiederholte der alte O’Flynn, der den Platz neben Ferris Tucker eingenommen hatte. „Und das mitten in der grünen Hölle, wo hinter jedem Baumstamm eine Bestie lauert. Ob das wohl Spanier waren? Oder vielleicht Portugiesen?“
Dan O’Flynn, der die schärfsten Augen an Bord hatte, war zu Bill in den Ausguck aufgeentert. Seine erregte Stimme unterbrach plötzlich die Mutmaßungen der Männer an Deck.
„Skelette!“ rief er. „Ich bin mir zwar nicht absolut sicher, aber ich glaube, es sind Skelette an Bord. Und nicht gerade wenige. Ja doch, ich sehe es jetzt deutlicher. Es sind Skelette!“
Mit einem Blick, in dem die Zukunft der nächsten tausend Jahre verborgen lag, sah der alte O’Flynn den Profos an, der neben ihn getreten war.
„Skelette“, murmelte er mit ungläubigem Gesicht. „Was denn für Skelette?“
„Von Toten natürlich, du Stint“, sagte Ed Carberry. „Oder hast du schon einmal lebendige Skelette gesehen, was, wie?“
Old O’Flynn winkte beleidigt ab. „Du willst mich wohl für dumm verkaufen, was? Ich meine natürlich, ob die Skelette vielleicht von den Dons sind, wenn das in deinen Ochsenschädel hineingehen sollte, den du rein aus Versehen auf deinen Schultern trägst.“ Wie zur Bekräftigung seiner Worte stieß er mit dem Holzbein gegen das Schanzkleid.
Bevor der Profos zu einer passenden Erwiderung Luft holen konnt, wurde er vom Seewolf unterbrochen.
„Ein Wrack mit vielen Skeletten, das ergibt auf Anhieb keinen rechten Sinn“, stellte Hasard fest. „Wir sehen uns das Ganze mal aus der Nähe an. Fiert das Beiboot ab, wir pullen rüber.“
Erwartungsvoll sahen ihn die Männer an, jeder in der Hoffnung, daß er mit von der Partie sein würde. Doch da räumte der Kapitän der „Isabella“ schon mit der Ungewißheit auf und nannte die Namen.
„Du, Ed“, sagte er zu dem bulligen Profos, „und ihr, Dan und Ferris, ihr begleitet mich. Al, gib die Waffen aus.“
„Aye, Sir“, sagte Al Conroy, der stämmige, schwarzhaarige Stückmeister der „Isabella“.
Wenig später erschien er mit den Waffen. Ed Carberry erhielt eine Muskete, Dan O’Flynn und Ferris Tucker wurden mit je einer Pistole bewaffnet, und Hasard nahm seine Radschloßpistole mit. Ferris Tucker hatte zusätzlich seine frisch geschärfte Zimmermannsaxt in den breiten Ledergürtel geschoben.
Das Beiboot war inzwischen abgefiert worden, und die vier Seewölfe pullten los – auf das geheimnisvolle Wrack zu, auf dem der Tod zu hausen schien. Die Sandbank, auf der es lag, mündete direkt in dem Mangrovendickicht, hinter dem tausend tödliche Gefahren lauern konnten. Hasard und seine Männer kannten die grüne Hölle und wußten, daß man ständig auf der Hut sein mußte, wenn man nicht irgendwelche böse Überraschungen erleben wollte.
Ungehindert erreichten sie die Sandbank. Hasard, Ed Carberry und Ferris Tucker sprangen in das flache, blaugrüne Wasser, um das Boot auf den Sand zu ziehen.
Nur Dan saß noch auf der achteren Ducht und versuchte fluchend seine Pistole hochzuzerren, die sich in der Gräting verklemmt hatte. Endlich gelang es ihm. Er wollte gerade aufstehen, um den anderen zu folgen, da ließ ihn ein lauter Warnschrei heftig zusammenfahren.
Für einen Moment saß Dan O’Flynn wie erstarrt im Boot. Was er sah, ließ ihm trotz der brütenden Hitze fast das Blut in den Adern gefrieren. Sein Blick heftete sich auf das dichte Mangrovengestrüpp, das sich weiter hinten zu einem immergrünen, verfilzten Wald verdichtete. Die Mangroven wucherten wie Unkraut, weil ihre zahlreichen Luftwurzeln die Feuchtigkeit aus der ohnehin dampfenden Luft sogen und somit für ein ständiges Wachstum sorgten.
Aus dem Dickicht, das bis in das seichte Brackwasser der Flußmündung wucherte, schoß ein dunkler Schatten hervor und bewegte sich unheimlich schnell über den schmalen Streifen der Sandbank.
Es war ein riesiger Mohrenkaiman.
Dieses gefährliche Raubtier, das es sogar versteht, die blaugrüne Farbe des Wassers anzunehmen, das es durchschwimmt, gehört zu den größten Alligatoren des Amazonasgebietes und greift in seiner Gefräßigkeit alles an, was sich bewegt.
Hasard hatte den dunklen Schatten, der sich aus dem Mangrovengestrüpp gelöst hatte, als erster bemerkt und den Warnruf ausgestoßen. Aber noch bevor die Männer recht begriffen, was geschah, war der Kaiman schon heran und griff sofort Ed Carberry an.
Mit einem häßlichen Geräusch riß das gewaltige Tier, das aussah wie ein Koloß aus grauer Vorzeit, den Rachen auf und ließ eine Unzahl langer und scharfer Zähne erkennen.
Der Profos der „Isabella“, dem absolut keine Zeit mehr verblieb, einen seiner von Herzen kommenden Flüche vom Stapel zu lassen, sprang geistesgegenwärtig zur Seite. Und das war sein Glück. Nur so gelang es ihm buchstäblich im letzten Moment, dem tödlichen Angriff auszuweichen. Die mächtigen Kiefer des Mohrenkaimans schnappten ins Leere.
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