Plötzlich registrierte sie rechts neben sich eine Regung und wollte herumfahren, aber es war zu spät. Sie konnte nicht mehr reagieren. Starke Hände schossen aus dem Gebüsch hervor und packten sie, die eine riß sie am Arm zu Boden, die andere preßte sich gegen ihren Mund.
„Keinen Laut“, flüsterte eine Männerstimme auf spanisch. „Keine Dummheiten – es geschieht dir nichts, wenn du vernünftig bist.“
Lieber Gott, dachte sie, jetzt haben sie mich doch entdeckt. Jetzt ist alles aus.
„Ich nehme die Hand von deinem Mund, wenn du mir versprichst, nicht zu schreien“, raunte ihr der Mann zu. „Wirst du still sein?“
Ilaria nickte. Seltsam, sie kannte die Stimme nicht und wußte nicht, welcher Pirat das war, der sie überrumpelt hatte. Er zog die Hand zurück, und sie konnte ihren Kopf wenden und ihm ins Gesicht blicken.
Sie war grenzenlos überrascht. Ein halbnackter Mann kauerte neben ihr im Dickicht – und was für ein Mann! Groß, breitschultrig, stark, schwarzhaarig, gutaussehend mit harten, markanten Zügen: von solch einem Kerl träumten selbst hartgesottene Kurtisanen. Unwillkürlich schloß Ilaria die Augen, dann öffnete sie sie wieder und gab einen leisen Seufzer von sich.
„Du hattest mir versprochen, keinen Laut von dir zu geben“, sagte er.
„Allmächtiger! Wer bist du?“
„Philip Hasard Killigrew. Aber verrate mich nicht.“
Fast wurde ihr schwindlig. „Du – bist das? Aber Mardengo hat dich doch – gefangengenommen.“
„Ganz ruhig bleiben“, zischte Hasard, dann lächelte er. „Wir haben uns eines kleinen Tricks bedient. Weißt du, warum ich dir das erzähle? Ich habe das Gefühl, ich kann dir trauen.“
„Ja, ja!“ versicherte sie eifrig. „Ich heiße Ilaria.“
„Gut, Ilaria. Bist du auch eine Gefangene?“
„Sozusagen. Aber wer ist der Mann, der sich als der Seewolf ausgegeben hat?“
„Ferris Tucker“, entgegnete Hasard gedämpft. „Mein Schiffszimmermann. Und der, der sich Ferris nennt, ist Dan O’Flynn.“
Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, da steige ich nicht durch. Aber das spielt auch keine Rolle. Du willst deine Freunde befreien. Ich helfe dir dabei, aber unter einer Bedingung.“
„Daß ich dich mitnehme?“
„Mich – und meine fünf Freundinnen“, flüsterte sie.
„Heiliger Strohsack.“ Hasard hatte erst jetzt Gelegenheit, sie ausgiebig zu betrachten. Hübsch war sie, dunkelhaarig, rundum gesund und von Mutter, Natur großzügig mit Rundungen bedacht, eine echte Spanierin, aus Andalusien ihrem Akzent nach, eine Lady mit Feuer im Blut. „Das wird ja immer lustiger“, murmelte er. „Und die beiden Schwarzen nehmen wir natürlich auch mit, wenn uns die Flucht gelingt, oder?“
„Ja.“
„Warum hält man euch hier fest? Seid ihr Geiseln?“
Unwillkürlich schlug sie die Augenlider nieder. „Nein.“ Zum erstenmal in ihrem Leben schämte sie sich ihres Metiers. Es war seltsam, aber dieser schwarzhaarige, atemberaubend verwegene Mann krempelte ihr gesamtes Gefühlsleben um. Sie war verwirrt.
„Mardengo hat uns von einem spanischen Schiff entführt, das er überfiel“, wisperte sie. „Wir sollten eigentlich in einem Wirtshaus der Neuen Welt unsere – unsere Arbeit tun, aber nun sind wir eben auf dieser verdammten Insel gelandet.“
„Ich verstehe“, sagte er leise, dann hielt er ihr die Hand hin, die bisher noch ihren Arm festgehalten hatte. „Das ändert aber nichts. Wir sind Verbündete, und ich tue alles, um euch an Bord der ‚Isabella‘ zu holen, die ich zurückerobern werde.“
Sie übersah die Hand und fiel ihm um den Hals. Ihre Küsse bedeckten sein Gesicht, er versuchte, sich sanft dagegen zu wehren, aber ihr Temperament ließ sich nicht zügeln. Es gelang ihr, ihn umzuwerfen. Ihr weicher, warmer Körper preßte sich auf ihn.
„Ilaria“, flüsterte er. „Nichts gegen deine Zärtlichkeiten, aber dazu ist jetzt wirklich keine Zeit. Wir können uns später noch ausführlich unterhalten.“
„Oh, du hast recht.“ Sie richtete sich auf. Ihre Augen schienen zu funkeln, sie lächelte. „Wir werden uns unterhalten, Hasard, am besten in deiner Kammer an Bord der ‚Isabella‘. Ich habe dir viel zu erzählen, sehr viel. Und meine Phantasie kennt keine Grenzen.“
„Das glaube ich dir gern.“ Er erhob sich und räusperte sich leise. Natürlich würde er sie enttäuschen müssen, die Autorität des Kapitäns durfte schließlich nicht untergraben werden. Aber das konnte er ihr später erklären – falls alles klappte.
„Schnell jetzt“, drängte er sie. „Wir müssen ins Lager und die Wachen überwältigen.“
„Warte.“ Sie brachte ihr Gesicht dem seinen wieder ganz nahe. „Das geht so nicht. Vor allem darfst du Oka Mama nicht unterschätzen. Lieber stirbt sie, als daß sie zuläßt, daß deine Kameraden befreit werden. Verstehst du?“
„Wir müssen sie ablenken – sie und die Kerle.“
„Ich weiß, was wir tun können“, flüsterte sie. „Du mußt mir vertrauen, bitte. Laufen wir zur Landzunge an der Ostbucht.“
„Das ist zu weit.“
„Nein. Ich kenne alle Pfade, und ich weiß, wo die Fallen sind. Sie befinden sich in erster Linie im nordwestlichen Bereich der Insel. Wir haben freie Bahn – und wenn wir das Katapult auf der Landzunge bedienen und die Feuertöpfe auf die Werft und die Skull-Insel schleudern, läßt die Alte hier alles im Stich. Wir können im Nu zurückkehren und die Hütten öffnen.“
Was sie sagte, klang überzeugend. Hasard hatte keine andere Wahl, er mußte auf ihren Vorschlag eingehen. Denn sie hatte recht – die Zahl der Wächter im Lager war nicht sehr groß, aber immer noch zu groß. Ehe er sie überwältigt hatte, schlugen sie möglicherweise Alarm. Dann genügte es, wenn nur ein paar der Kerle vom Fluß ins Lager zurückkehrten, und das ganze Unternehmen war zum Scheitern verdammt.
Viel klüger war, die Piraten durch eine gezielte Aktion abzulenken. Somit war auch das Risiko geringer, daß die Arwenacks in den Hütten in Gefahr gerieten. Hasard mußte jedes Risiko vermeiden, Ilarias Auftauchen war ihm gerade recht.
Er nahm sie bei der Hand, und gemeinsam hasteten sie durch den Dschungel. Sie begegneten niemandem, kein Posten verstellte ihnen den Weg. Nur kurze Zeit verging, und sie hatten die Landzunge im Norden der Bucht bereits erreicht, wie Ilaria gesagt hatte. Hasard wußte jetzt, daß er ihr wirklich trauen durfte.
Don Augusto Medina Lorca hatte vorsichtshalber die Marssegel der „Santa Veronica“ aufgeien lassen. Jetzt ließ er auch die Fock und den Besan wegnehmen – es war ratsam, mit langsamer Fahrt unter Land zu gehen.
Die „Santa Veronica“ glitt zwischen Korallenbänken dahin, es war fast ein Wunder, daß sie noch nicht aufgelaufen war. Der Pirat, der neben Don Lope de Sanamonte auf dem Achterdeck stand, hielt unwillkürlich den Atem an. War das die Möglichkeit? Ohne es zu beabsichtigen, hatte er das Flaggschiff in eine der Passagen gelenkt, die durch die Barriere führten und nur Mardengo und seinen Piraten bekannt waren.
Der Seemann auf dem Galion, der die Aufgabe hatte, die Wassertiefe auszuloten, schrie plötzlich: „Señor Capitán! Achtung – wir halten auf ein Riff zu!“ Trotz der Dunkelheit konnte er den flachen Buckel erkennen, der tiefschwarz aus den Fluten aufragte – direkt vor ihnen.
„Beidrehen!“ rief Don Augusto. Das Manöver wurde unverzüglich und in größter Eile durchgeführt, der Rudergänger legte Hartruder, um dem drohenden Auflaufen zu entgehen.
Tatsächlich schafften sie es: Die „Santa Veronica“ blieb in unmittelbarer Nähe der gefährlichen Bank in ausreichend tiefem Wasser liegen. Sämtliche Segel hingen im Gei. Die Männer hielten Umschau und begriffen, welch enormes Glück sie gehabt hatten. Zu allen Seiten ragten die Korallen aus dem Wasser. Die „Santa Veronica“ saß in einer Falle.
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