Hasard nickte düster. „Ich erinnere mich, Ed. Ich erinnere mich auch an die Haie. Wie es aussah – für uns jedenfalls – hatte keiner von den Lumpenkerlen eine Chance, zu überleben. Aber wir prüften das auch nicht nach. Wie dem auch sei – offenbar überlebten meine beiden sogenannten Brüder und schafften es, nach England zurückzukehren. Für mich ist das ein Rätsel. Ich hielt sie für tot – im gewissen Sinne sind sie das auch für mich. Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben.“
„Das sehe ich anders“, sagte der ruhige, besonnene Ben Brighton, Hasards Erster Offizier, und er wich dem wütenden Blick seines Kapitäns nicht aus. „Mir zum Beispiel ist es verdammt nicht gleichgültig, wenn es zwei Schurken mit einem miesen Trick gelungen sein sollte, sich auf Arwenack einzunisten. ‚Arwenack‘ – das ist unser Kampfruf, und wir nennen uns manchmal Arwenacks, weil du von der Feste über Falmouth stammst und dort deine Kindheit und Jugend verbracht hast. Der Kampfruf ‚Arwenack‘ hat eben seine eigene Bedeutung für uns. Wenn Arwenack jetzt mit zwei Strolchen identisch ist, dann habe ich etwas dagegen. Das hat zum Teil etwas mit Schmutz zu tun, und unser Kampfruf soll sauber bleiben.“
Beifallsgemurmel klang auf, und die Mannen nickten.
Du meine Güte, dachte Hasard, jetzt reden die Kerle gleich noch davon, daß es wider ihre Ehre sei, sich ihren Kampfruf beschmutzen zu lassen.
Genauso war’s.
Smoky, der Decksälteste, haute auf die Pauke und tönte: „Ehrensache, daß wir diese Sache bereinigen! Ich schlage vor, daß wir nach Falmouth segeln und die Ferkelbrüder ins Gebet nehmen. Hand hoch, wer dafür ist!“
Alle Hände flogen hoch. Eine Hand blieb unten – die von Philip Hasard Killigrew.
„Du bist überstimmt, Sir“, erklärte Smoky resolut. „Die überwiegende Mehrheit hat entschieden.“
Hasard schnappte ein bißchen nach Luft.
„Es geht auch um dein Erbe, Sir“, sagte Smoky entschieden. „Wenn es meins wäre, würde ich darum kämpfen, natürlich vorausgesetzt, daß an der Sache was faul ist. Aber das, was Doc Freemont berichtet hat, deutet darauf hin, daß die Ferkelbrüder schmutzige Pfoten haben.“
Hasard verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete ein wenig biestig: „Und was ist, wenn ich auf dieses sogenannte Erbe pfeife, Mister Smoky? Oder wollt ihr mich auf Arwenack absetzen, damit ich dort meine Tage beschließe, he? Und ihr verzieht euch wieder in die Karibik, nicht wahr?“
„Davon kann überhaupt nicht die Rede sein, Sir“, sagte Smoky empört. „Wenn du auf dein Erbe pfeifst, kannst du’s ja dann verschenken. So einfach ist das. Oder du übergibst Arwenack deinen beiden Söhnen.“
„Frag sie doch mal“, sagte Hasard prompt.
Nun ja, da lief der gute Smoky ins offene Messer. Denn die beiden Killigrew-Junioren erklärten energisch, sie hätten die Absicht, beim Bund der Korsaren zu bleiben, und der „Mister Smoky“ möge sich die Feste Arwenack an den Hut stecken.
Für einen Moment war Smoky perplex, aber dann hatte er eine Idee, und die hing damit zusammen, daß er nie etwas erben würde. Denn seine ihm unbekannte Mutter hatte ihn schlicht als Wickelbaby auf der Eingangsschwelle der St.-Andrews-Kirche in Plymouth abgelegt, darauf vertrauend, daß ihn zumindest der vertrottelte Kirchendiener finden würde. Hatte der auch.
O Heiland! Smoky schob die Gedanken an seine Vollwaisenzeit schnell beiseite – bis auf die Tatsache, daß er nie ein richtiges Zuhause gehabt hatte.
„Sir“, sagte er sehr ernst, „wenn du die Festung Arwenack erbst, könntest du sie der Stadt Falmouth als eine Art Lehen anvertrauen – mit der Maßgabe, die Feste als Waisenhaus einzurichten und zu unterhalten. Wie findest du das?“
Na, das war vielleicht ein Vorschlag! Alle Mannen waren verdutzt, einschließlich ihres Kapitäns, der seinen lieben Smoky anstarrte, als sehe er ihn zum ersten Male.
Und dann brummte er nur: „Hm!“ Und noch einmal: „Hm-hm!“ Beim zweiten „Hm-hm“ kratzte er sich hinter dem rechten Ohr, was er sonst nie tat. Oder höchst selten, vielleicht einmal alle fünf Jahre.
Smoky kriegte inzwischen den träumerischen Blick.
„Da hätten die armen Würmer endlich ein festes Dach über dem Kopf“, schwärmte er, „ein festes Dach auf soliden Mauern. Und im Burghof könnten sie Haschen spielen, in den Ställen Versteck. Im Burggarten müßte Gemüse angepflanzt werden, weil kleine Kinder frisches Gemüse brauchen. Im Keller wird eine Badestube eingerichtet – mit, äh, zehn großen Waschbottichen …“
„Wieso zehn?“ fragte Carberry fassungslos.
Die Arwenacks sahen überhaupt alle so aus, als kämen sie nicht ganz mit.
„Wenn gebadet wird“, belehrte Smoky den Profos, „können immer fünf Würmerchen in einem Bottich planschen, klar?“
Der Profos zog den Kopf ein. Dieser Mister Smoky wurde ihm unheimlich.
Paddy Rogers, sonst mit dem Denken so schnell wie eine Schnecke, hatte bereits gerechnet und verkündete: „Fünf Würmerchen mal zehn Bottichen macht fünfzig Würmerchen.“
„Genau“, sagte Smoky, fixierte seinen Kapitän und erkundigte sich: „Wie viele Zimmer hat Arwenack, Sir?“
„Wie viele …“ Hasard brach wieder ab, und seine Finger beschäftigten sich ein zweites Mal mit dem rechten Ohr.
Dafür sprang Big Old Shane ein, der ehemalige Schmied von Arwenack. Und er grinste bis zu den Ohren.
„Wenn ich mich richtig erinnere“, dröhnte er, „sind in der Burg selbst zwanzig Zimmer, ganz abgesehen von den Zimmern im Gesindehaus, im Haus des Burgvogts und dem linken Flügel mit den Waffenkammern.“
„Reicht satt“, sagte Smoky zufrieden. „Allein in den zwanzig Zimmern der Burg könnten wir dann schon sechzig Würmerchen unterbringen, drei auf jedem Zimmer, vielleicht auch vier, womit wir bei achtzig Würmerchen wären.“ Und Smoky strahlte.
„Da würden wir dann für die Badestube aber mehr Bottiche brauchen“, sagte Paddy Rogers bedächtig, „und zwar nicht zehn, sondern sechzehn.“
„Ich werd’ nicht mehr“, ächzte der Profos. „Spinnt ihr? Achtzig Würmerchen!“ Und er donnerte: „Könnt ihr mir mal sagen, wo ihr die herkriegen wollt?“
„Hier an Bord“, donnerte Smoky zurück, „sind allein schon drei Waisenkinder versammelt, nämlich Bill, Blacky und ich!“
„Vier“, sagte der Kutscher.
Alle Köpfe ruckten zu ihm herum.
„Vier?“ fragte Smoky verdutzt. „Wieso vier? Wer denn noch?“
„Ich!“ sagte der Kutscher, starrte verlegen auf seine Stiefel und hatte einen roten Kopf.
Die Kerle standen da, als seien sie mit den Köpfen gegen ein Scheunentor gerannt. Völlig perplex. Der einzige, der still vor sich hinlächelte, irgendwie wissend, war Doc Freemont. Bei ihm war der Kutscher damals in Plymouth so eine Art Mädchen für alles gewesen, bevor ihn Kapitän Drakes Preßgang auf die „Marygold“ verschleppt hatte.
Hasard warf ihm einen schnellen Blick zu. Wußte der Doc mehr von der Vergangenheit oder Herkunft des Kutschers? Aber er sagte nichts. Da war nur sein Lächeln.
Auch der Kutscher beließ es dabei, ein Zipfelchen seiner Vergangenheit angehoben zu haben. Den Mannen brannte die Neugier in den Mienen, aber sie erfuhren nichts weiter, gar nichts.
Der Kutscher hatte seine Verlegenheit schnell überwunden. Er sagte zu Carberry – fast kühl: „Unter vierunddreißig Männern hier an Bord vier Vollwaisen, Profos! Das reicht doch wohl als Beweis für das, was Smoky vorschwebt. Vielleicht solltest du einmal ein Waisenhaus besuchen, um selbst zu sehen, wie viele Kinder dort gezwungen sind, zu leben, und zwar in qualvoller Enge und unter Bedingungen, die jedem menschenwürdigen Dasein Hohn sprechen.“
Smoky nickte bestätigend. „Erinnerst du dich an die Affen-Galeone, Ed, die wir vor vier Jahren mit Siri-Tong in der westlichen Karibik aufbrachten? Da waren vier und mehr Affchen in einen Käfig gesperrt, einige standen an Deck, andere unten in den Laderäumen – es stank zum Gotterbarmen, und nur ein Pater war an Bord, der sich um die armen Tiere kümmerte. Damals dachte ich an das Waisenhaus, in dem ich ein paar Jahre zugebracht hatte – bis ich eines Nachts ausbrach. Zwischen den Affenkäfigen auf der Galeone und dem verdammten Waisenhaus war gar kein so großer Unterschied.“
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