Impressum
© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-526-2
Internet: www.vpm.deund E-Mail: info@vpm.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
„Land ho! Land Steuerbord voraus!“
Wie ein Trompetensignal schmetterte die Stimme des zwanzigjährigen Moses Bill über die Decks der „Isabella“. Köpfe wurden gehoben, in die schläfrigen Männer geriet Bewegung. Tropische Hitze brütete über dem Schiff, nur gemildert von der stetigen Brise, die die Segel füllte, die Galeone raumschots über das tiefblaue Wasser trieb und der Crew Zeit gab, das süße Nichtstun zu genießen. Nicht einmal der Rudergänger brauchte sich anzustrengen. Der Wind wehte gleichmäßig, als wolle er die Menschen vergessen lassen, daß es so etwas wie Böen überhaupt gab. Das Kielwasser der „Isabella“ wirkte wie mit dem Lineal gezogen.
Soweit wäre alles in schönster Ordnung gewesen, wenn das süße Nichtstun nicht eine weniger süße Seite gehabt hätte: die Langeweile.
Philip und Hasard, die achtjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs, vertrieben sich die Zeit, indem sie immer neue Streiche ausheckten, bis ihnen der Profos mal wieder die Kehrseiten verdrosch. Hasard junior hatte sich bestens von seiner Verletzung erholt.
Der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, schlich mit Leichenbittermiene herum, weil der Mangel an handfesten Problemen, die debattiert werden konnten, zu völlig unberechtigten Nörgeleien an seinem Essen führte.
Old O’Flynns Gespenstergeschichten waren nach einhelliger Meinung auch nicht mehr das gleiche wie früher. Sogar Ed Carberrys Flüchen fehlte der wahre Schwung. Heute zum Beispiel hatte er sich nur ein einziges Mal zu der Drohung aufgerafft, jemandem die Haut in Streifen von einem gewissen edlen Körperteil zu ziehen – nämlich Blacky und Luke Morgan, die sich über die tiefgründige Frage in die Haare gerieten, wie man bei den Kakerlaken Männlein und Weiblein auseinanderhalten könne.
Jetzt waren es die Zwillinge, die diese Frage aufgegriffen hatten und zum Zwecke ihrer Erforschung in der Kombüse auf Kakerlaken-Jagd gingen.
Der Kutscher schimpfte wie ein Rohrspatz über die Unterstellung, in seiner Kombüse seien Kakerlaken zu finden. Luke Morgan und Stenmark zogen ihn prompt mit finsteren Mutmaßungen über den Inhalt seiner Suppenkessel auf.
Und der Seewolf, der auf dem Achterkastell stand und den makellos blauen Himmel betrachtete, hatte den Verdacht, daß gleich wieder der Profos dazwischenfahren würde, um zu verhindern, daß sich die Streithähne eine herzerfrischende Keilerei lieferten.
Land in Sicht! Das war genau die richtige Medizin.
Selbst Ben Brighton, der immer ruhige und beherrschte Bootsmann der „Isabella“, grinste erleichtert, als er den grünlichen Buckel Steuerbord voraus über der Kimm sah. Eine Insel bedeutete Abwechslung, auch wenn man nicht behaupten konnte, daß es in letzter Zeit an Inseln gemangelt hätte. Dieser Teil des pazifischen Ozeans war voll davon. Viele gleichen sich, aber manch eine hatte schon eine Menge Überraschungen geboten. Und irgendwo, vermutlich in nicht allzu weiter Ferne, mußte auch noch jener geheimnisvolle, unentdeckte Kontinent Australien liegen, von dem niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob er nicht doch nur eine Legende war.
Unten auf der Kuhl drängten sich die Männer am Steuerbord-Schanzkleid.
Auch die Zwillinge hatten die Kakerlaken-Jagd aufgegeben, enterten ein Stück in die Wanten und spähten nach Nordwesten. Über ihnen schaukelte der Schimpanse Arwenack auf einer Webleine. Der Papagei Sir John flatterte aufgeregt herum und bewies wieder einmal, was er seinem speziellen Freund Ed Carberry alles abgelauscht hatte.
„Land ho! An die Brassen und Fallen, ihr lahmen Säcke! Quergestreifte Affenärsche Steuerbord voraus!“
„Halt den Schnabel, du Mistvieh!“ schnauzte der Profos.
„Ramm das Schott dicht, du Enkel einer triefäugigen Gewitterziege“, krächzte der Papagei.
„Da soll doch dieser und jener dreinfahren!“ empörte sich Carberry.
„Wasch dir die Füße, du Hering!“ konterte der Vogel total unlogisch, und die Crew kommentierte den Wortwechsel mit einer donnernden Lachsalve, zumal der Profos automatisch auf seine Zehen blickte und im nächsten Moment in einem Ton losfluchte, als wolle er den Himmel zum Erröten bringen.
Sir John plusterte sich ob der allgemeinen Aufmerksamkeit. Er hatte noch mehr auf Lager, aber er wurde von Bill übertönt, der von seinem luftigen Ausguck im Großmars aus weitere Meldungen brachte.
„Deck! Auslegerboot Steuerbord voraus. Ist gerade hinter einer Landzunge der Insel erschienen!“
Hasard zog das Spektiv auseinander und setzte es ans Auge.
Die Insel rückte heran: ein unregelmäßiger Kegel, von sattgrüner Vegetation überwuchert. Perlmuttfarbener Sand säumte eine tief eingeschnittene Bucht, die in einer felsigen Landzunge auslief. Aus dem Schatten dieser Landzunge löste sich tatsächlich ein Auslegerboot mit dem typischen, seltsam geformten Katamaran-Segel.
Minuten später folgten ihm ein zweites, dann ein drittes und viertes Boot.
Undeutlich erkannte Hasard die halbnackten braunhäutigen Gestalten: fast drei Dutzend Eingeborene, die aufmerksam zur „Isabella“ spähten. Ihr Kurs lag etwa parallel zu dem der Galeone. Doch der ranke Segler holte rasch auf, und es dauerte nicht lange, bis auch mit bloßem Auge Einzelheiten zu erkennen waren.
„Ha!“ schrie Donegal Daniel O’Flynn junior, der die schärfsten Augen an Bord hatte.
„Was heißt hier Ha, du Wanze?“ grollte der Profos.
„Hast du Brotfrüchte auf den Klüsen, Ed? Eine Südsee-Lady! Und was für eine! Gegen die hat die rote Lou aus der ‚Bloody Mary‘ ’ne Figur wie ein Großsegel bei Flaute!“
Auch das noch, dachte der Seewolf erschüttert.
Was Dan O’Flynn meinte, war klar: ein Großsegel bei Flaute ließ jegliche Rundung vermissen. Und die braunhäutige Südsee-Lady, die da vorn in dem ersten Katamaran kauerte, hatte alle Rundungen, die wichtig waren, was nicht zu übersehen war, da ein Grasrock und ein Blumenkranz eine ziemlich unzureichende Bekleidung darstellten.
„Mannomann“, seufzte Smoky, der Decksälteste, verzückt.
„Verdammt, verdammt“, murmelte der rothaarige Schiffszimmermann Ferris Tucker und hatte ein gewisses Glitzern in den Augen.
„Was ist denn mit euch los?“ erkundigte sich Philip junior respektlos. „Habt ihr noch nie ’n paar Insulaner gesehen, oder wie?“
Wahrscheinlich, überlegte Hasard senior, wurde es Zeit, seinem Nachwuchs bei Gelegenheit ein paar Einsichten in gewisse Aspekte der menschlichen Natur zu vermitteln. Oder doch nicht? Bei den Gauklern, mit denen sie bis zu ihrem siebenten Lebensjahr herumgezogen waren, hatte es eine bauchtanzende Lady namens Suleika gegeben, die keine Lady gewesen war. Und das Talent der Zwillinge, immer genau das aufzuschnappen, was nicht für ihre Ohren bestimmt war, konnte sich sehen lassen.
Hasard verschob die Frage.
Denn inzwischen hatte auch er die Südsee-Lady etwas genauer betrachtet – als Kapitän mußte man sich schließlich orientieren – und dabei festgestellt, daß Grasrock und Blütenkranz der Schönen reichlich zerrauft wirkten. Sie sah nicht so aus, als befinde sie sich freiwillig auf dem Auslegerboot. Als sich die „Isabella“ jetzt näherte, glaubte der Seewolf, in den großen, dunklen Augen einen deutlich flehenden Ausdruck zu erkennen.
Auch den anderen entging das nicht.
Blacky verzog grimmig das Gesicht. Sam Roscill kippte fast außenbords, weil er sich dermaßen den Hals verrenkte. Luke Morgan winkte lebhaft, und die Südsee-Lady produzierte ein Lächeln, bei dem ein Eisberg aufgetaut wäre.
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