Eine Weile soll er bei Helmut Niehaus, dem Sohn des Sammlers Fritz Niehaus, gewohnt haben. 110Beuys’ Eltern versuchten, ihm zu helfen und holten ihn nach Hause. Mindestens drei Monate lag er im verdunkelten Zimmer, 111wo er »hinvegetierte« und nur noch aus »Selbstbedauern und Selbstanklage« bestand, schrieb Hanns Lamers an Sonja Mataré. »Nun haben wir uns das letzte Mal gesehen«, sagte er stets am Ende des Krankenbesuchs und weinte dabei. »Es war für mich eine schreckliche Situation. Auch ich habe ihn mit aller Güte und zuletzt auch mit böser Härte behandelt. […] Man wusste wirklich nicht mehr, wie man ihn behandeln sollte, selbst die Ärzte nicht«, schrieb Lamers. 112Auch Beuys’ Eltern zeigten sich mit der Situation überfordert. Erst als die Brüder van der Grinten ihn aufnahmen, schien sich die Krankheit zu bessern. Mehrere Wochen lang lebte Beuys in dem Bauernhaus seiner Freunde in Kranenburg. 113
»1956–1957 Beuys arbeitet auf dem Felde«, heißt es in seinem »Lebenslauf/Werklauf« lapidar. Ein Mythos von bodenständiger Männlichkeit scheint hier durch. Franz Joseph van der Grinten erinnert sich an diese Zeit: »Wenn es ihm gut ging, war er mit uns zehn bis zwölf Stunden auf dem Feld. Die körperliche Bewegung tat ihm gut. Wir haben aber auch unheimlich viel miteinander gesprochen und viel von ihm über seine Kriegszeit erfahren. Manchmal war seine Depression aber so schlimm, dass er sich in seinem Zimmer einschloss und nicht mal zu den Mahlzeiten erschien. Selbst als sein Vater ihn besuchen kam, öffnete er nicht die Tür. Wenn es ihm besser ging, haben wir abends zusammengesessen und miteinander geredet. Wir haben versucht, ihm zu erklären, dass er mit seinen schöpferischen Fähigkeiten nicht hadern solle. Anfangs wollte er seine eigenen Zeichnungen nicht mal ansehen. Später hat er dann begonnen zu zeichnen — und dann hat er gezeichnet und gezeichnet.« 114Im Spätsommer 1957 war die Depression überwunden. Seinem »Lebenslauf/Werklauf« fügte er — nicht ohne Ironie — eine neue Station hinzu: »1957–1960 Erholung von der Feldarbeit«.
Beuys bezog jetzt ein Atelier im ehemaligen Klever Kurhaus, ganz in der Nähe seiner elterlichen Wohnung. Er hielt seine Kontakte nach Düsseldorf aufrecht. In der Kunstakademie lernte er auf einem Karnevalsfest 1958 Eva Wurmbach, die Kunsterziehung studierte, kennen. Weinend, mit einer Rose in der Hand, habe sie in einer Ecke gestanden. 115Das scheint ihn gerührt zu haben, denn er setzte sich zu ihr. Dass Beuys anfangs immer Hasenköttel in der Brusttasche seiner Hemden hatte, hat Eva Wurmbach anscheinend nicht irritiert. 116Schließlich war ihr Vater Hermann Wurmbach Zoologe. Sie verliebte sich in den gut aussehenden Mann, die beiden wurden ein Paar und heirateten am 22. September 1959 in Bonn, wo Evas Familie lebte. »Herr Beuys, wie sind denn Ihre persönlichen Verhältnisse?«, soll Hermann Wurmbach gefragt haben, und das ehrliche »Ich habe nichts und werde auch in Zukunft nichts haben« scheint den zukünftigen Schwiegervater überzeugt zu haben, denn er öffnete eine Flasche Sekt und stieß auf das Brautpaar an. 117Die Hochzeitsreise des Künstlerpaars führte nach Paris. Sie wollten Leonardo da Vincis »Mona Lisa« sehen. Eva Wurmbach-Beuys hatte ihre Examensarbeit über das Thema »Die Landschaften in den Hintergründen der Gemälde Leonardos« geschrieben, und Beuys hatte dazu elf Diagramme gezeichnet, in denen der Aufbau der Bilder Leonardos analysiert wird.
1958 war ein entscheidendes Jahr für Joseph Beuys — nicht nur privat, sondern auch künstlerisch orientierte er sich neu. Es entstanden erste Zeichnungen unter dem Titel »Projekt Westmensch 1958«. Darin verfolgte er die Idee, dass Kunst und Leben sich wechselseitig durchdringen sollten. Von nun an wollte Beuys ein Vermittler zwischen Kunst, Wissenschaft, Natur und Technik sein — so wie Leonardo da Vinci. Für Leonardo, den umfassend gebildeten Maler, Bildhauer, Architekten, Naturphilosophen und Ingenieur, war Erkenntnis die wichtigste Antriebsfeder seiner Kunst. Diesem Ideal folgte Beuys von nun an.
Doch Anerkennung fand er noch immer nicht. Im Gegenteil: Zwar interessierte sich der einflussreiche Düsseldorfer Galerist Alfred Schmela für seine Arbeiten, doch auf eine Ausstellung bei ihm musste Beuys noch sieben Jahre warten. Auch für die Professorenstelle für Bildhauerei an der Düsseldorfer Akademie wurde er aufgrund des Votums seines Lehrers Mataré im ersten Versuch abgelehnt. Das waren keine guten Zeichen für eine Künstlerkarriere, und es war sicher auch kein hoffnungsvoller Start für eine junge Ehe. Seit Dezember 1959 hatten Eva und Joseph Beuys eine gemeinsame Wohnung in der Quirinstraße 18, Düsseldorf-Oberkassel, doch die Einkünfte dürften spärlich gewesen sein. Beuys nahm an einem Wettbewerb für ein Denkmal im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau teil, und für den alten Kirchturm in Büderich gestaltete er Tor und Kreuz für das Ehrenmal der Gefallenen der beiden Weltkriege.
Anfang 1961 wendete sich das Blatt: Im März wurde Beuys die Professur an der Düsseldorfer Akademie zugesagt. Mit der Aussicht auf eine gesicherte finanzielle Situation und vielleicht auch weil Eva schwanger war, zog das Paar in eine Wohnung am Drakeplatz 4, die der Künstler Gotthard Graubner seinem Kollegen Beuys vermittelt hatte. Graubner hatte sein Maleratelier im selben Haus. Am 22. Dezember wurde Boien Wenzel Beuys geboren, drei Jahre später, am 10. November 1964, kam die Tochter Jessyka zur Welt. Von nun an war die einfach möblierte Wohnung mit einem mit Leder belegten Fußboden und einem großen Kühlschrank der Lebens- und Arbeitsmittelpunkt der Familie. 
DER „VERRÜCKTE“ PROFESSOR: DIE REVOLUTIONIERUNG DER KUNST
Studentenprotest in Düsseldorf 1972 gegen den Numerus Clausus und die Entlassung von Joseph Beuys als Professor der Kunstakademie.
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