Kai Meyer - Der Rattenzauber

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Ein finsteres Gerücht erreicht den Hof des Herzogs: In Hameln sollen hundertdreißig Kinder verschwunden sein. Der junge Ritter Robert von Thalstein wird entsandt, um das Rätsel zu lösen. Doch Hameln, halb versunken in ewigem Regen und schwarzem Schlamm, ist religiösem Irrglauben anheimgefallen. Ein vermeintlicher Ketzer wird grausam gefoltert, während sich der Statthalter des Herzogs verängstigt versteckt.
Der geistliche Herrscher der Stadt, der Probst Gunthar von Wetterau, sorgt sich nur um das Mysterienspiel, das er auf einer gigantischen Bühne aufführen will. Und ein wunderlicher Italiener namens Dante Alighieri erzählt Robert von einem Rattenfänger, der die Kinder durch einen nahen Berg in die Hölle entführt haben soll. Die Wahrheit, so Dante, kenne einzig die junge Klarissenschwester Julia, doch sie hat ewiges Schweigen gelobt. Robert begreift, dass der Schlüssel zu Hamelns Geheimnissen in der Vergangenheit verborgen liegt – in jener der Stadt und seiner eigenen …
"Kai Meyer und seine Figuren verweigern sich Schubladen. Erfrischend und sehr europäisch." – New York Times
"Einer der fantasiereichsten Erzähler Deutschlands, ein Meister magischer Momente." – Kölner Stadtanzeiger
"Kai Meyer, der deutsche Fantasy-Exportschlager – meisterlich!" – Bild am Sonntag

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Copyright © Kai Meyer 1995

Ein E-Book der MiMe books agency Michael Meller 2012

Covermotiv: Mario Heyer (BLITZ-Verlag)

Autorenfoto: © Steffi Meyer

ISBN: 978-3-9815001-1-0

Kai Meyer

Der Rattenzauber

Heile heile Segen! Drei Tage Regen, vier Tage Schnee, tut dem Kindlein nichts mehr weh .

Kinderreim

VORBEMERKUNG

Am 26. Juni des Jahres 1284 verschwanden aus der Stadt Hameln am Weserufer hundertdreißig Kinder. Historiker streiten über die Gründe: Manche sprechen von Krieg oder Krankheit, andere von einem Unglück oder der Umsiedlung nach Schlesien. Keiner kennt die Wahrheit.

Der Volksmund hat seine eigene Deutung: Der Rattenfänger habe die Kinder geholt. Eine Legende, sagen die meisten. Eine Erklärung, so gut wie jede andere.

Das Rätsel bleibt weiterhin ungelöst.

Niemand weiß, was mit den Hamelner Kindern geschah.

K. M.

PROLOG

Und plötzlich fragte die Fremde:

»Kennt ihr die Geschichte von König Herodes und den Kindern Bethlehems?«

Ihre Stimme klang warm wie die Flammen der heimischen Feuer, süß wie das Backwerk der Händler aus dem Süden, und die Kinder Hamelns rückten in der Dunkelheit näher an die Frau heran, betörend und schön, wie sie dastand, den weiten Mantel zurückgeworfen, den Wanderstecken griffbereit zu ihren Füßen, wie ein Zauberstab, dessen sie in diesem Augenblick nicht bedurfte. Denn die Magie, die sie wirkte, war anderer Natur; ihre Worte woben ein Netz aus Geschichten, ein machtvolles Gespinst, unsichtbar und doch stärker als das Tuch der Weberinnen im Genitium am Fluss.

Einige der Kinder, die sich zu später Stunde am Fuß des östlichen Stadttors eingefunden hatten, murmelten Worte der Zustimmung, andere murrten gar: Sie waren nicht gekommen, um dieselben Geschichten zu hören, die der Priester allwöchentlich von der Kanzel predigte. Ein kleiner Junge hob die Hand. »Die Weisen aus dem Morgenland kamen zum Hof des Königs Herodes und fragten ›Wo ist der neugeborene König der Juden?‹ Herodes erschrak und befragte seine Schriftgelehrten. ›Zu Bethlehem‹, sprachen diese. Der König fürchtete um sein Reich und sandte Krieger in die Stadt und ihre Umgebung, die alle Kinder hinschlachteten, die jünger waren als zwei Lenze. Nur Jesus entging diesem Schicksal, denn Gott war seinen Eltern im Traum erschienen und hatte sie nach Ägypten befohlen.«

Die Frau lächelte und fragte: »Ist es das, was euch der Pfaffe lehrt?«

Die Kinder murmelten, nickten. Vom wilden Hügelland im Osten wehte ein kühler Nachtwind heran, flüsternd, klagend, säuselnd in den Scharten der Stadtmauer. Sie hatten kein Feuer entzündet, als sie sich hier versammelten, und so herrschte tiefe Dunkelheit; die große Frau war kaum mehr als ein schwarzer Umriss vor den Sternen.

Wie aber konnten sie da heimlich ihre Schönheit preisen, wo doch niemand sie sah? Wie sich ihrer Warmherzigkeit erfreuen, wenn keiner sie kannte?

Die Fremde schien zu spüren, dass ihr Bann an Wirkung verlor. Mit einem gütigen Seufzen hob sie den Stab aus dem Gras, wandte seine knorpelige Spitze gen Süden und sagte: »Ich will euch berichten, was wirklich geschah, damals, im fernen Judenland, doch es ist keine schöne Geschichte.«

Niemand hatte Einwände. Die Kinder – es mochten mehrere Dutzend sein, die sich im Dunkeln aus den Häusern ihrer Familien gestohlen und durch schlammige Gassen herbeigeschlichen waren – gaben sich mit jedem Garn zufrieden, so es nur neu und voller Wunder war. Ihre Augen erglühten, ihre kleinen Hände zogen die Säume von Decken und Überwürfe enger, und sogleich herrschte atemlose Stille.

»Tatsächlich begab es sich«, sprach die Frau, »dass König Herodes, Herrscher über das Land der Juden, von der Geburt eines Kindes erfuhr, auf dass ihm angst und bange wurde. Ob es in der Tat die drei Weisen des Matthäus waren, die ihm die Kunde brachten, oder aber Späher, welche die Gerüchte und Legenden des einfachen Volkes auskundschafteten, das weiß ich nicht.«

»Wie kannst du eine Geschichte erzählen und doch nicht alles über sie wissen?«, fragte einer der älteren Jungen.

»Dies ist keine erfundene Geschichte«, wies ihn die Frau zurecht, und obgleich er ihre Antwort nicht verstand, fuhr sie fort:

»Herodes fühlte sich in seiner Macht bedroht, denn einen zweiten König, gleich ob neugeboren oder nicht, wollte er keinesfalls dulden. Nach Beratungen mit seinen Priestern und Hofgelehrten traf er jene Entscheidung, von der auch das Evangelium berichtet: Das Kind, welches vom Volk als neuer König verehrt wurde, musste sterben.«

»Du erzählst uns nichts Neues«, beschwerte sich ein Mädchen, doch sogleich brachten andere es mit Gesten und Knuffen zum Schweigen; sie ahnten sehr wohl, dass der eigentliche Kern der Geschichte noch folgen würde. Sie spürten seinen Atem, das Echo seiner Schritte, fühlten ihn nahen wie ein Unwetter am Horizont.

Die schwarze Frau rammte die Spitze ihres Wanderstabes in den Boden, als wollte sie damit die Welt in zwei Hälften spalten. Doch falls dies ein Zeichen ihres Zorns über die neuerliche Unterbrechung war, so vermochte man ihrer Stimme dergleichen nicht anzuhören. Sanft klangen ihre Worte, als sie weitersprach, weich und voller Wehmut.

»Die Kinder Bethlehems ahnten nicht, wie ihnen geschah, als eines Tages ein Fremder ihre Stadt betrat. Und doch sollte sich durch ihn ihr Schicksal erfüllen. Denn nicht Soldaten hatte Herodes gesandt, keine Krieger, wie es die Kirche predigt, nein, nur diesen einen Mann. Er kam in bunter, lustig anzuschauender Kleidung, ein Geck und Possenreißer mit herzlichem Lachen und allerlei schöner Gaukelei. Doch tief in seinen Augen, im Dämmerschatten seiner fröhlichen Mütze, loderte ein schwarzes Feuer. Vielleicht hätten es die Alten bemerkt, wären sie ihm nahe gekommen. Der Fremde aber spielte und scherzte nur mit den Kindern, sang und reimte mit ihnen. Er schlich sich nicht in ihre Herzen, o nein, er stürmte mit Fanfaren geradewegs in sie hinein, und er tat es nicht im Geheimen, sondern vor den Augen aller. Um den Hals des Fremden hing an einem Lederband eine hölzerne Flöte, und immer wieder baten und flehten die Kinder, er möge darauf spielen, doch immer wieder verwehrte er ihnen diesen Gefallen, so harmlos, so brav er auch scheinen mochte. Schließlich aber, nach einigen Tagen, tat er es doch, und er tat es bei Nacht, als die Erwachsenen schliefen, und seine Musik schlich sich in den schutzlosen Schlaf der Kleinen, fraß sich in ihren Geist und zwang ihnen den Willen des Fremden auf, seinen dunklen, bösen Willen. Unbemerkt folgten sie ihm aus der Stadt – und es waren wahrlich nicht nur jene, die zwei Jahre und jünger waren, sondern auch ältere, ganz so, wie ihr selbst es seid. Unbemerkt zogen sie fort aus Bethlehem und verschwanden aus der Welt, und niemand sah sie jemals wieder.«

Die Kinder Hamelns schauderten bei diesen Worten, einige der Jüngeren brachen in Tränen aus. Dies war eine hässliche Geschichte, und manch einer bereute bereits, hierher gekommen zu sein. Hände wurden ergriffen, Gesichter tiefer in die Wärme weiter Kapuzen gezogen.

»Und wirklich niemand kehrte heim?«, fragte ein Junge mit kahlem Schädel.

»Keiner kehrte zurück«, bestätigte die Frau. »Und doch entgingen zwei Kinder dem furchtbaren Auszug.«

»Wie das?«, fragte ein Stimmchen aus der Kindermenge.

Die Frau atmete tief durch und stützte sich auf ihren Stab. »Ein kleiner Junge zog mit seinen Eltern nur wenige Stunden zuvor fort aus Bethlehem. Ihr kennt ihn als Jesus von Nazareth.« Sie lächelte rätselhaft. »Noch ein zweites Kind blieb in der Stadt, ein kleines Mädchen mit lahmem Bein, das den anderen nicht schnell genug folgen konnte und so dem Bann des Flötenspielers entging.«

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