"Wie lange werden wir bis dorthin noch brauchen?", erkundigte sich Kryll.
Lathors Gesicht wurde ernst.
"Auf der Route von Arkull nach Alark blies uns der Wind in den Rücken und wir kamen unverhältnismäßig schnell vorwärts. Aber jetzt... Der Wind kommt annähernd von vorn und wir werden gegen ihn kreuzen müssen. Das kostet Zeit. Vielleicht erleben wir unterwegs auch eine Flaute."
"Wenn erst Taraks Schiffe die Meere dieser Welt befahren, werden wir nicht mehr vom Wind abhängig sein", schaltete sich der Namenlose in die Unterhaltung ein.
"Mir ist die GEEDRA lieber, als eines dieser Dämonenschiffe aus dem Schattenland", sagte Lathor bissig. Kryll zuckte nur mit den Schultern.
"Gegenüber Taraks Schiffen sind Schiffe wie die GEEDRA nicht mehr als armselige Nussschalen", behauptete der Namenlose hochnäsig.
Lathor machte eine ärgerliche Geste.
"Wer bist du schon, Namenloser, dass du so zu reden wagst?"
Der Namenlose wandte den Kopf.
Seine Stimme klang eiskalt.
"Ich würde dir raten, einen Diener Taraks nicht zu beleidigen, wenn du nicht seine Rache herausfordern willst!"
Drohend standen sich die beiden gegenüber.
"Lasst Euren Streit ruhen! Ihr gefährdet nur unsere Sache damit!", stellte Kryll fest.
Einen Moment lang hing alles in der Schwebe. Keiner der beiden rührte sich.
"Der König hat recht", sagte schließlich Lathor. Seine Haltung entspannte sich etwas, aber man sah ihm die Mühe an, die er dabei hatte, sich selbst unter Kontrolle zu halten.
Der Namenlose nickte leicht.
"Das ist eine vernünftige Einstellung", sagte er.
Kryll atmete auf.
Der Namenlose ging zum Bug der GEEDRA und stellte sich dort auf. Er blickte hinaus auf das Meer.
"An Eurer Stelle würde ich den Namenlosen genau im Auge behalten, mein König", raunte der Kapitän.
Kryll wandte den Kopf.
"War es nötig, ihn zu provozieren?"
Lathor fluchte leise vor sich hin. Einige unartikulierte Laute gingen ihm über die Lippen. Dann ging er und wandte sich wieder seinen Pflichten als Kapitän zu.
Kryll konnte Lathor mit seinem Misstrauen gut verstehen. Auch ihm war der Mann aus dem Schattenland unheimlich, aber er sagte nichts. Er brauchte den Namenlosen einstweilen noch...
*
Auf Grund des ungünstigen Windes kam die GEEDRA nur verhältnismäßig langsam vorwärts. Lathor, der Kapitän gab sich zwar alle Mühe, aber ein Wunder konnte auch er nicht bewirken.
So leicht wie der Wind glitt das Schiff über die Wellen, aber die GEEDRA musste wieder und wieder kreuzen, um ihrem Ziel ein Stück näher zu kommen.
Eine unheilschwangere Stimmung lastete schwer auf dem Schiff und seiner Besatzung. Eine angespannte Atmosphäre herrschte an Bord, obwohl es dafür eigentlich keinen wirklich greifbaren Grund gab.
Als der Vogel aufgetaucht war, hat sich alles verändert, schoss es Kryll auf einmal durch den Kopf. Vielleicht hatte der Namenlose recht und dieses geheimnisvolle Wesen bedeutete tatsächlich eine Gefahr.
In Gedanken hörte Kryll wieder und wieder Warnung des weißen Vogels. Der König von Pragan sollte umkehren, wenn er nicht großes Unglück über die Welt bringen wollte...
Nur ich selbst habe die Stimme des weißen Vogels gehört, vergegenwärtigte sich der König. Wahrscheinlich war sie nichts weiter, als die Manifestation meiner Zweifel und meiner Unsicherheit...
Und doch...
Er hatte jedes einzelne Wort ganz deutlich gehört. Einen Moment lang dachte Kryll an Magie, aber wenn etwas damit zu tun hatte, dann verhielt es sich ganz offensichtlich so, dass diese Magie gegen den Namenlosen und die überlegene Macht, die hinter ihm stand, nichts auszurichten vermochte.
Nein, Kryll hatte sich längst entschieden.
Er würde seinen Weg zu Ende gehen und nichts und niemand würde ihn davon abbringen können!
Er wollte nach Kuldan, um sich den Ring zu holen.
Der Ring bedeutete Macht...
Und es gab nichts, wonach es Kryll im Augenblick mehr verlangte. Der Ring bedeutete Macht und der Ring und der Spiegel zusammen bedeuteten noch mehr Macht. Er würde mehr davon bekommen, als er sich überhaupt vorstellen konnte.
Lange genug habe ich auf dem Thron von Pragan gesessen, ohne wirkliche Macht zu besitzen, durchfuhr es ihn. Aber das würde bald ein Ende haben, wenn er erst einmal den Ring und den Spiegel in seine Gewalt gebracht und ein Tor zum Schattenland errichtet hatte.
Aber Kryll wusste auch, dass er vorsichtig sein musste,
Er durfte Tarak und seinem Diener, dem Namenlosen, nicht blind vertrauen.
Es war dem jungen König klar, dass ihn Tarak nur als Werkzeug ansah, dass er fallenlassen konnte, wenn er es nicht mehr brauchte.
Aber Kryll hatte nicht die Absicht, nur ein Werkzeug zu sein.
Er würde sich etwas einfallen lassen, um Tarak hereinzulegen.
Macht kann trügerisch sein, überlegte er, während er hinaus auf das Meer blickte, auf dessen Oberfläche die Sonne glitzerte.
Das Problem ist, dass man oft nicht weiß, über wie viel Macht man wirklich verfügt, ging es ihm durch den Kopf. Und einen Moment lang fragte er sich, ob nicht auch er seine Möglichkeiten maßlos überschätzte.
*
Der Wind wurde heftiger.
Dunkle Wolken zogen am Himmel auf.
Die Wellen wurden spürbar höher und das Schiff schaukelte bald stark.
"Hoffentlich gibt es keinen Sturm!", meinte Kraynar, der Steuermann der GEEDRA.
Mit eisernem Griff hielt er sicher das Ruder. Kryll bemerkte, wie Kapitän Lathor besorgt seinen Blick zum Himmel hob.
"Es sieht nicht gut aus", raunte er.
Der Steuermann nickte kaum merklich.
Kryll war es so, als flüsterte der Wind ihm etwas zu. Der Wind flüsterte und der König hörte die Stimme, mit der der weiße Vogel zu ihm gesprochen hatte.
"Kehrt um, König Kryll! Kehrt um!", schien der aufbrausende Wind ihm zuzurufen.
Krylls Züge verhärteten sich unwillkürlich.
"Ich werde nicht umkehren", murmelte er vor sich hin. Der Wind hatte indessen aufgehört zu flüstern.
Regen setzte ein.
Dicke Tropfen platschten auf die GEEDRA und ließen die Planken nach kurzer Zeit rutschig werden.
Kryll schlang sich seinen warmen Umhang enger um die Schultern und marschierte mit langen Schritten zum Heck.
"Es wird ein ausgewachsener Sturm", meinte Kryll an seine Männer gewandt.
Er hatte das im Gefühl.
"Solange wir nur vom Regen heimgesucht werden, kann man noch nichts sagen", erklärte Olkyr, der jetzt zusammen mit Kraynar das Ruder hielt.
Lathor, der Kapitän wandte einen kurzen Blick gen Himmel zu den aufgetürmten Wolken.
"Es wird nicht dabei bleiben", prophezeite er.
"Ich schlage vor, zur Vorsicht die Segel zu reffen", schlug Kraynar, der Steuermann vor.
Aber Kryll schüttelte energisch den Kopf.
"Nein, das kommt nicht in Frage!"
"Es wäre aber ratsam, mein König!", rief Kraynar.
"Wir würden zu viel Zeit verlieren", erwiderte Kryll kühl.
"Das Schiff könnte kentern!"
"Ich sage, die Segel werden nicht gerefft!" Krylls Stimme klang jetzt eisig und hart. Olkyr und Kraynar wechselten einen etwas verwunderten Blick und schwiegen dann.
Lathors düstere Vorhersagen schienen sich zu erfüllen, als ein heftiger Windstoß die GEEDRA packte und sie für einige Augenblicke in eine Schräglage versetzte.
Die Männer wurden durcheinandergewirbelt, während Kraynar und Olkyr verzweifelt das Ruder zu halten versuchten.
"Wir müssen die Segel reffen!", rief Lathor, der drakanische Kapitän beschwörend. "Wir haben keine andere Wahl!"
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