Manchmal frage ich mich, wozu da eigentlich die Regale mit den Romanen im Zimmer stehen. Ich finde nichts Passendes mehr, dabei ist nicht mal die Hälfte gelesen. Ich mag alle diese Bände, ich weiß, dass sie gut sind, die Farben und Formen der Bücher und ihre Anordnung sind altvertraut – vielleicht zu vertraut? In »Die Brüder Karamasow« fand ich eine Quittung aus dem späten 20. Jahrhundert als Lesezeichen auf Seite 51. So weit bin ich wohl schon mal gekommen, dachte ich, warum blieb ich da stecken?
Da stand: »Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder, die er bis dahin überhaupt noch nicht gekannt hatte, machte einen ungewöhnlich starken Eindruck auf ihn.« Dass dieser Satz jetzt keinen Eindruck auf mich machte, ist nicht Dostojewskys Schuld. Man muss sich der Romanwelt hingeben, dann wird man das gar nicht als Satz wahrnehmen, dann muss das einfach so sein. Aber offenbar hatte ich schon vor 15 Jahren nicht mehr die Geduld, so weit hineinzugeraten. Ich bin zu kurzatmig für das russische 19. Jahrhundert.
Dann eben Balzacs »Verlorene Illusionen« zum zweiten Mal lesen! Aber auch da blieb ich jetzt hängen, beim ersten Liebesdialog. Das ist eigentlich ein Monolog, in dem der junge Mann, Erbe einer schäbigen Provinzdruckerei, der jungen Frau in allen Einzelheiten die Geschichte des Papiers erklärt. Und das abends auf einer Brücke über die Charente! Nachdem David »auf die feuchte, zitternde Hand Eves« eine Träne hat fallen lassen, hält er ein mehrseitiges, musterhaftes Referat. Irre.
Damals hat das meine Lektüre nicht gestoppt. Vielleicht waren mir Liebesdialoge egal, und Balzacs Sachkenntnis beeindruckte mich. Wie ihn selbst; er wollte diese Papiergeschichte ja um jeden Preis unterbringen. Dass er damit eine Liebesszene verwüstete, war ihm egal. Obwohl: Es gibt wirklich Leute, die den Ansturm von Emotionen so bizarr kanalisieren, wie Katzen, die sich wahnsinnig über die Wiederkehr ihres Personals freuen, aber sich scheinbar völlig desinteressiert erstmal das Fell putzen.
Wahrscheinlich habe ich eine Romanphobie entwickelt, eine Angst vor dicken Büchern. Aber es gibt eine Therapie. Ich las jetzt in einem Roman, den ich zum Verschenken gekauft habe. Ganz vorsichtig, damit er nicht benutzt aussieht, das Lesebändchen darf nicht bewegt werden, und die Zeit bis Weihnachten reicht eh nicht. Und tatsächlich, es ist spannend! Die Limitierung verschärft den Reiz – wie ein Kleid, das die bedeckte Schönheit gerade so ahnen lässt.
Aber für Dostojewsky müsste es schon sehr limitiert zugehen. Ich müsste in einem Flughafen ohne Lektüre festsitzen und unter einem leeren Kaffeebecher die herausgerissene Seite 51 finden: »Ich glaube, die Ankunft seiner beiden Brüder …« Ich würde alles über diese Brüder wissen wollen, alles. Bis ich zu Hause wäre, wo zehn Bände Dostojewsky, currygelb und ungelesen, geduldig warten. Vielleicht sollte ich sie verschenken, dann lerne ich sie mal kennen.
Mathilda, nicht den Jungen hauen!
Wenn ich allein reise, kann ich stundenlang in der Bahn sitzen, ohne einen Menschen kennenzulernen, ohne ein Wort zu wechseln. Mit Kleinkind ist das anders. Es zwingt einen zum Kontakt. Das beginnt schon, wenn man jemanden bitten muss, die Karre in den Zug zu hieven, und im Kleinkindabteil geht es dann richtig los. Kinder stürmen sofort aufeinander zu, wenn sie nicht gerade klitzeklein sind. Sie wollen einander berühren, »nein, Mathilda, nicht den Jungen hauen! Eia machen! Eiei! Ja, so …«, sie interessieren sich für fremdes Spielzeug, »Elias, du musst aber fragen, ob du die Giraffe haben darfst!«, sie nesteln indiskret am Gepäck, »stopp, Frido, das ist nicht unser Koffer …«
Die Erwachsenen sind permanent zum Balanceakt gezwungen. Einerseits wollen sie Neugier und Kontaktfreude der Progenitur unbedingt unterstützen, andererseits Respekt vor Eigentum und Intimsphäre der anderen Reisenden signalisieren. Es begeistert ja nicht jeden, dass mein Kerlchen jeden beweglichen Gegenstand in den Mund nimmt oder wenigstens oral testet, was auch Karrenräder und Koffergriffe einschließt. Neulich griff er sich Plastikmännchen aus dem Arsenal eines Mädchens, die nun wie Beutetiere aus seinem Mund hingen und von mir erstmal getrocknet werden mussten. »Anna Amalia hat das Alter zum Glück schon hinter sich, wo alles in den Mund muss«, sagte ihre Mutter kühl, »und die Köpfe können ja auch abgehen.«
Eigentlich sind so indignierte Eltern aber selten. Meist bildet sich sofort eine Verständnisgemeinschaft, weil alle wissen, dass es nicht nur glücklich macht, wenn man drei von fünf Stunden braucht, um auch nur einen Zeitungsartikel durchzulesen, wenn die Fütterung mit gesundem Gemüsebrei dadurch erschwert wird, dass die süßen Löffelbiskuits von gegenüber viel interessanter sind, wenn todmüde Kinder nicht schlafen können. Also tauscht man die Basisdaten aus: Dreizehn Monate, ja, ein Junge, anderthalb Jahre, gerade laufen gelernt, drei Jahre: »Willst du dem Jungen nicht mal dein Malbrett zeigen?« »Ohje, ich fürchte, das nimmt er erstmal in den Mund …«
Vor allem schaltet man die Toleranz auf unendlich. Schreifrequenzen, die das Trommelfell scheppern lassen, besabbertes Spielzeug, zerfetzte Zeitungen (»macht nichts, mehr als einen Artikel hätte ich eh nicht geschafft«), das alles zaubert auf die Gesichter der Eltern ein sonderbares feines Dauerlächeln ähnlich dem der Mona Lisa, eine Mischung aus Ergebenheit und Zuversicht. So wie Lisa del Giocondo sich vor 507 Jahren sagte, »er ist anstrengend, dieser Leonardo, aber die Sitzung dauert ja nicht ewig, und was tut man nicht alles zum Wohle der Menschheit«, so ähnlich geht es den Eltern im Kinderabteil. Ältere Damen, die von draußen hineinsehen, denken, ach, ist das herrlich. Coole Jungs, die von draußen hineinsehen, denken: Voll debil, wie diese Leute gucken. Beide irren. Man wird sehr offen da drin. Aber eben auch sehr, sehr … gähn … müde.
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