Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens

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2019 vollendet der bekannte und renommierte Sankt Augustiner Kirchenrechtler Rudolf Henseler sein 70. Lebensjahr. Aus diesem Anlass haben sich rund 30 Freunde, Weggefährten, Kolleginnen und Kollegen aus Wissenschaft und Kirchenrechtspraxis versammelt, um dem Jubilar für seine Verdienste um das Kirchenrecht, insbesondere das Ordensrecht und seinen Dienst in der kirchenrechtlichen Praxis zu danken.
Die Beiträge erfassen überwiegend das weite Spektrum des Kirchenrechts und geben Antworten auf viele aktuelle kirchenrechtliche, aber auch manche theologische Fragen unserer Tage.

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„Die ‚Billigkeit‘ ist für Luther die hohe Form der rationalen Gesetzestreue, die durch vernünftige und verantwortliche Rechtsauslegung und -anwendung die Gerechtigkeit der Entscheidungen nach dem Geist des Gesetzes auch gegen dessen Buchstaben gewährleisten muss.“ 20

Auch dieses Billigkeitsverständnis hat theoriegeschichtliche Vorbilder. Zu erkennen ist eine Nähe zu Thomas von Aquin, der Aristoteles‘ Ansatz scholastisch weiterentwickelte. Wie Aristoteles sieht Thomas billiges Handeln als in den Fällen gefragt, in denen sich ein Widerspruch zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht abzeichne. 21Dieses Problem komme notwendigerweise vor, weil menschliche Gesetze sich nicht als jedem Fall angemessen erwiesen. Ein menschlicher Gesetzgeber könne nur übliche Fallkonstellationen berücksichtigen, nicht aber eine immer passgenaue gesetzliche Lösung vorhalten. Unausweichlich konfligierten Gesetze daher in Einzelfällen mit der Einzelfallgerechtigkeit und dem Gemeinwohl. 22Sei dies in einer Angelegenheit der Fall, sei es schlecht, sich an den Buchstaben des Gesetzes zu klammern. Stattdessen sei ein billigkeitsgemäßes Handeln gefragt. Die billige Entscheidung folge der ratio iustitiae. Hier begegnen sich Thomas‘ und Luthers Ansatz. Beide verstehen die Billigkeit als die Verwirkung des eigentlichen Gesetzes. Mithilfe der Billigkeit sei dem Naturrecht, das sich hinter dem gesatzten Recht abzeichne, zum Durchbruch zu verhelfen. Um zu ihm vorzudringen, gelte es, den Buchstaben des positiven Gesetzes hinter sich zu lassen.

2. Anwendungsprinzip

In der Lektüre von Luthers Texten wird freilich zugleich deutlich, dass Luther ein Urteilen gemäß der Billigkeit nicht auf Sonderfälle beschränkt wissen will. Während er wie Aristoteles die Billigkeit zur Lösung von Einzelfällen empfiehlt, in denen das gesatzte Recht die Gerechtigkeit verfehlt, vertritt er doch eine breitere Bedeutung der Billigkeit, insoweit er sie in jeder Rechtsauslegung und -anwendung am Werk sieht. So warnt er in der Rechtsanwendung generell vor einer rigiden Durchsetzung des Rechts: „Item alzuscharff wird Schertig. Darumb mus man zu beiden seiten einschlahen und die billickeit, lassen alles rechts meisterin sein“ 23. Der Hinweis, es sei immer notwendig, „zu beiden seiten einschlahen“, gibt der Billigkeit einen Sitz in der Bewertung jedes Falles. Indem Luther „die billickeit, lassen alles rechts meisterin sein“, rückt er sie als grundlegendes Applikationsprinzip in den Mittelpunkt jeglicher Rechtsanwendung. Dies betont auch Martin Heckel, der es als Kern des Lutherischen Billigkeitsverständnisses ausmacht, dass dieser Auslegung und Anwendung des Rechts im Spiegel des Naturrechts reflektiere. Billigkeit sei bei Luther eine „naturrechtliche Auslegungs- und Anwendungsmaxime“, die „das ius strictum limitiert“ 24. Das strenge Recht werde gemildert durch ein Prinzip, das im Zuge jeder Rechtsanwendung dem natürlichen Gerechten zum Durchbruch verhelfen soll.

Hierdurch stellt sich Luther in eine Tradition, die antike und kanonistische Vorbilder hat. Die Billigkeit als Auslegungs- und Anwendungsprinzip ( aequitas ) entstammt dem römisch-rechtlichen Denken. Ihre Wiederentdeckung im mittelalterlichen Recht erfolgte im Rahmen der kirchlichen Rechtsanwendungstheorie und steht mit Heinrich von Susa („Hostiensis“) in Verbindung, der in seiner Summa aurea von 1253 drei Annäherungen an den Billigkeitsbegriff vorlegte. 25Hostiensis befreite die Billigkeit aus ihrer reduzierten Rolle einer Gesetzeskorrektur im Einzelfall und rückte sie in das Zentrum der Rechtsanwendung. Sie ist bei ihm nicht mehr nur Tugend, sondern modus rationabilis, mit dessen Hilfe jede Rechtsanwenderin bzw. jeder -anwender das Recht so auf den Fall zu beziehen habe, dass es von der Barmherzigkeit gemildert werde. Den Ertrag dieser Lesart für die kanonistische Methodologie hielt Thomas Schüller fest. Bei Hostiensis wirke die Billigkeit

„als rechtlicher Garant für die Einbeziehung aller Umstände bei der Urteilsfällung […], ist somit das zentrale Rechtsinstitut auf der Applikationsebene des Rechts, das in ausgezeichneter Weise Recht und Barmherzigkeit unter der Grundforderung nach einer der salus animarum dienenden Rechtspraxis realisiert.“ 26

In dieser Fruchtbarmachung der Billigkeit für die Applikationstheorie liege der Wert der von Hostiensis wiederentdeckten römischen Billigkeitskonzeption gegenüber anderen auf Ausnahmefälle beschränkten Billigkeitsvorstellungen seiner Zeit. Dieser Gedanke taucht nun bei Luther ebenso auf. Dies zeigt, dass sich in Luthers Billigkeitsbegriff diverse Traditionen der Überwindung rechtlicher Rigidität miteinander vereinigen, wie Jason Gehrke bemerkt: „Even when Luther invoked Aristotle, he often had in mind a Roman or Ciceronian version of the concept which had survived long into the Middle Ages.“ 27

Billigkeit steht bei Luther im Zusammenhang der Urteilsfindung. Es geht um einen Zugang zur Rechtsanwendung, der sich souverän vom Buchstaben des Gesetzes löst und dabei vernünftig bleibt. Dies entfaltet Luther in radikaler Weise in Bezug auf Entscheidungen in zivilen Streiten. Der Sache gerecht werde nur ein Urteil gemäß der Liebe und der Natur:

„Denn wo du der liebe nach urtehlst, wirstu gar leycht alle sachen scheyden und entrichten on alle recht buecher. Wo du aber der liebe unnd natur recht auß den augen thust, wirstu es nymmer mehr so treffen, das es Gotte gefalle, wenn du auch alle recht buecher und Juristen gefressen hettist. Sondern sie werden dich nur yrrer machen, yhe mehr du yhn nach denkest. Ein recht gut urtehl das muß und kann nicht auß buechern gesprochen werden, sondern aussz freyem synn daher, als were keyn buch.“ 28

Doch wie kann ein Urteil „aussz freyem synn“ gelingen, das nicht völlig beliebig ist? Hier ist in Luthers Rechtsanwendungstheorie der Ort der Vernunft, die zu ermessen hat, wie eine Norm in Anwendung zu bringen sei:

„Darumb muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das allzeyt über alles recht regiere unnd das uberst recht unnd meyster alles rechten bleybe die vernunfft.“ 29

Der evangelische Theologe Ulrich Körtner erläutert diesen Passus näher: Luthers

„Maßstab ist die Vernunft, wobei alles positive Recht nicht nur der Vernunft, sondern auch der Liebe untergeordnet ist. Darum ist die Billigkeit […] für Luther ein wichtiges Kriterium für den Vollzug des Rechts.“ 30

Die Liebe ist indes keine Gegenspielerin der Vernunft, sondern in der Vernunft selbst angelegt: „Aber solch frey urteyl gibt die liebe und naturlich recht, des alle vernunfft voll ist.“ 31Indem Luther neben die Liebe das „naturlich recht“ stellt, gibt er der Vernunft eine normative Orientierung. In diesem Sinne weist Martin Heckel nachvollziehbar darauf hin, dass Luther ein vernunftrechtliches Naturrechtsverständnis vertrat, insoweit er die menschliche Vernunft für erkenntnisfähig hielt, die natürliche Normativität zu entdecken und zur Grundlage menschlichen Entscheidens zu machen. 32

Luthers Fokussierung auf die Vernunft derer, die billigkeitsgemäß zu handeln berufen sind, zeigt zugleich an, dass billiges Entscheiden für ihn eine individuelle Aufgabe ist und wie bei Aristoteles und Thomas die Qualität einer Tugend hat. In einer Linie mit Klugheit und Frömmigkeit weist Luther die Billigkeit als Angelegenheit der Herzensbildung aus: „Derhalben die richter und herrn müssen hie klug und frum sein und die Billicheit aus der vernunft messen und also denn das rechte lassen gehen oder anstehen.“ 33Ob Luther hierbei Hostiensis vor Augen hatte, ist nicht ausgemacht, unwahrscheinlich ist es aber nicht. Immerhin bestimmte Hostiensis die Billigkeit als vernünftige Weise richterlicher Rechtsanwendung, die geeignet sei, die Strenge des Rechts im Zaum zu halten: „Aequitas est modus rationabilis, regens sententiam et rigorem, haec enim est aequitas, quam iudex, qui minister iuris est, semper debet habere pro oculis.“ 34In ähnlicher Weise deutet Luther Billigkeit als Richtertugend: Die Richter seien „leges vivae seu anima legis“ 35und dergestalt von der Tugend zur rechten Rechtsanwendung beseelt dazu berufen, ein angemessenes Urteil zu fällen.

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