Das Ende des gesellschaftlich bedingten Leidens wäre kein paradiesischer Zustand, in dem die »Sonn’ ohn’ Unterlass« scheint, wie es noch in der Internationalen hieß. Aber es wäre doch zumindest eine Situation, in der wir den Tod aus seinem Schattendasein holen könnten. Womöglich könnten wir dann wirklich, wie es in einer der ersten Überschriften dieses Buches heißt, »glücklich im Unglück« werden.
Aus diesem Grund ist die Dramaturgie des Daseins , die auf das Problem der Sterblichkeit zuläuft, nicht nur ein Buch fürs Hier und Jetzt, sondern auch für eine mögliche bessere Gesellschaft der Zukunft. Oder für vernunftbegabte Aliens, denen es vielleicht irgendwo im All gelungen ist, sich menschlicher zu organisieren, als wir Menschen das bisher geschafft haben.
1Vgl. Carl Hegemann: Identität und Selbst-Zerstörung. Grundlagen einer historischen Kritik moderner Lebensbedingungen bei Johann G. Fichte und Karl Marx , Alexander Verlag 2017.
2Ebd., S. 175.
3Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie , Dietz Verlag 1968, S. 529.
Vorwort für die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten
Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
(Friedrich Hölderlin)
Es gibt neben dem Dichtergenie und neben dem Wahnsinnigen auch einen fast alltäglichen Hölderlin, der mit den Widersprüchen des Daseins kämpft, der sein Leben nicht im Griff hat und in seiner Verzweiflung Dinge zu Papier bringt, die uns in ihrer schlichten, manchmal paradoxen Einfachheit auf eine fast selbstverständliche Weise ansprechen und fesseln. Kein hoher Ton, keine Huldigung an das alte Griechenland und seine Götter und Helden, sondern profanes Leiden, Ratlosigkeit und Überanstrengung sind dann seine Themen, trübe, voller Selbstzweifel und angewidert von den dumpfen Verhältnissen und stumpfen Mitmenschen und der Einsicht, selber auch nicht unbedingt besser zu sein. Auf der B-Seite des Lebens macht Hölderlin zum Beispiel die Erfahrung, dass eine junge Dame es ablehnt, ihn zu heiraten. Er notiert dies sofort auf dem gleichen Blatt, auf dem er gerade noch eine seiner bedeutendsten Hymnen (»Mnemosyne«) entworfen hat: »Und ledig soll ich bleiben«, und schickt gleich eine kleine Drohung an die Unwillige hinterher: »Leicht fanget aber sich / In der Kette, die / Es abgerissen, das Kälblein.«
Oder gegen die ihm nicht unbekannte Euphorie des Dichters, die Gefahr abzuheben und den Boden unter den Füßen zu verlieren, schreibt er: »Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe«, nämlich dann, wenn »die Nüchternheit dich verläßt«, die, für jeden unterschiedlich, die »Grenze deiner Begeisterung« markiert. Hölderlins Werk beschäftigt sich intensiv mit profanen Lebensfragen, die ihn ganz persönlich quälten. Er war nicht nur der heroisch leidende Dichter, er war auch einfach eine arme Kreatur, die litt, »weil sich ein Traum mir nicht erfüllte« und die sich fragte, »was ist mir fehlgeschlagen?« Hölderlin wusste, dass seine Oden, seine Hymnen und Gesänge, zwar sehr ernst waren, aber so ernst auch wieder nicht. Das Leben selbst jedenfalls war noch viel ernster, als es etwa sein berühmtes Gedicht »Hälfte des Lebens« zum Ausdruck bringt. Und seine dichterische Hochbegabung war immer nur ein schwacher Trost, zumal wenn Goethe und Schiller mit allerlei unverschämten Invektiven, in konzertierter Aktion versuchten ihn kleinzuhalten, womit sie ihn zwar als ernsthaften Konkurrenten anerkannten, aber auch an seinem gesellschaftlichen und ökonomischen Ruin beteiligt waren, den er allerdings hauptsächlich seiner »sparsamen« Mutter zu verdanken hatte, die ihm von dem ihm eigentlich zustehenden Erbe immer nur Kleinstbeträge auszahlte. Selbst als er nach seinem Rausschmiss aus dem Bankhaus Gontard in Frankfurt und der damit verbundenen Trennung von seiner Geliebten zu seinem besten Freund Isaac von Sinclair nach Bad Homburg zog, musste er feststellen, dass er dessen vermeintlich reine und exklusive Zuneigung, die starke homoerotische Züge trug, mit einem ganzen Haufen »auffallender Gestalten« zu teilen hatte, die Sinclair (Alabanda im Hyperion ) ihm lange verschwiegen hatte. »Mir war, wie einer Braut, wenn sie erfährt, daß ihr Geliebter insgeheim mit einer Dirne lebe.«
Die B-Seite des Lebens bringt immer wieder ungeahnte Höhepunkte hervor. Das sieht man in der Musikindustrie, wo die eigentlichen Meisterwerke oft auf der B-Seite zu finden sind und genauso schon bei Hölderlin, der schrieb, zur »wahrsten Wahrheit« gehöre auch der »Irrtum«. Und der auch dem »Inferioren« und sogar dem »Barbarischen« einen legitimen Platz zugestand, zumindest in der Sprache der Poesie, die ihn gleichzeitig anwiderte. »Man schämt sich seiner Sprache. Zum Tone möchte man werden und sich vereinen in Einen Himmelsgesang.«
Im profanen Scheitern, in den kleinen und großen Fehlschlägen, aber auch in Hirn zermarternden Denkanstrengungen, denen kein Paradox fremd ist, bewegen sich »die Sorglosschlafenden, die Frischaufgeblühten« in Christoph Marthalers so betitelter Hölderlininszenierung am Deutschen Schauspielhaus, tapfer, ergeben und verschwindend, übergehend in Töne, in Musik. Sie wirken oft wie Illustrationen der Klagen des Dichters, aber sie sind keine Illustrationen, sie sind einfach. »Freilich ist das Leben arm und einsam. Wir wohnen hier unten wie der Diamant im Schacht.«
Um diese gerade so gegenwärtige Erfahrung der sozialen Distanz und der Abkapselung selbst zu machen, brauchen wir keine coronabedingte Isolation, wir brauchen nur ein bisschen Hölderlin. Oder anders ausgedrückt: Die Coronaregeln formulieren ein Extrem, das für Hölderlin ein ganz unvermeidlicher Teil moderner Tragik ist. »Das ist das tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn, nicht daß wir [wie die tragischen Griechen] in Flammen verzehrt die Flamme büßen, die wir nicht zu bändigen vermochten.«
Ich glaube, Christoph Marthalers freundlicher Sarkasmus und Friedrich Hölderlins »In-die-Höhe-Fallen« passen ganz gut zusammen, und auch ein »zerrissen Saitenspiel« ist zu schönen Tönen fähig.
Das ist das tragische bei uns, daß wir ganz stille in irgend einem Behälter eingepakt vom Reiche der Lebendigen hinweggehn, nicht daß wir in Flammen verzehrt die Flamme büßen, die wir nicht zu bändigen vermochten.
Abb.: Ida Müller, »Torpedo«, Entwurf einer Flammenplastik vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, beidseitig bemalte Holzplatten und Metallgestänge, zwischen den Flammen begehbar, freistehend, abbaubar und transportabel, ca. 3 – 30 x 25 x 25 m (H x B x T), 2020.
I. WIE DEN TAG ÜBERSTEHEN?
Paradoxien des Genießens
Das Glück ist eine leichte Dirne,
Und weilt nicht gern am selben Ort;
Sie streicht das Haar dir von der Stirne
Und küßt dich rasch und flattert fort.
Frau Unglück hat im Gegenteile
Dich liebefest an’s Herz gedrückt;
Sie sagt, sie habe keine Eile,
Setzt sich zu dir an’s Bett und strickt.
(Heinrich Heine)
Nicht nur Heine in seiner Matratzengruft, selbst Goethe, das Weltkind und der Liebling der Götter, hielt Glück für einen ausgesprochen flüchtigen Zustand. Die glücklichen Momente in seinem Leben ließen sich an einer Hand abzählen, gab er als alter Mann zu Protokoll, dabei hatte er an »leichten Dirnen« bis ins hohe Alter keinen Mangel. (Es nagte an ihm, weil er seine Leistung für die Menschheit nicht in seinen Dichtungen sah, deren Wert er eher für gering erachtete, sondern in seiner revolutionären Farbenlehre, die aber niemanden interessierte.)
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