Felix Leibrock - Lutherleben

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Wolfgang Trödler alias Wolle, schwergewichtiger Hausmeister auf einem Campingplatz, Flirtkönig und Lebemann, fährt eines Tages mit seinen Inlineskatern gegen einen Baum. Aus dem Koma erwacht, verfügt er über ein enormes Insiderwissen zur Reformationszeit. Das Undenkbare ereignet sich: Wolle kann niemand anderes als Martin Luther sein, der große Reformator. Entsetzt erfährt er von der immer noch andauernden Spaltung der Christenheit, die er verursacht hat. Wie kann er helfen, mit Blick auf das Reformationsjubiläum 2017 diese Spaltung zu überwinden? Er macht sich auf die Suche nach einem der größten Geheimnisse der Reformationszeit und reist als Straßenmusiker an frühere Wirkungsstätten, nach Augsburg, Coburg, Worms, Eisenach, Erfurt, Wittenberg. Wird er, 500 Jahre nach den Ereignissen, den böhmischen Kelch wiederfinden? Zugleich recherchiert die Klinikseelsorgerin Sabine Harder, woher dieser merkwürdige Patient das Lutherwissen haben könnte.

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Felix Leibrock

LUTHERLEBEN

Ein Reformations-Roman

Michael Imhof Verlag

© 2011

Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG

Stettiner Straße 25

D-36100 Petersberg

Tel. 0661/9628286; Fax 0661/63686

www.imhof-verlag.de

Gestaltung und Reproduktion: Michael Imhof Verlag

Umschlagfoto: Britta Rehder, Apolda

ISBN ePUB 978-3-7319-0095-5

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft …

Philipper 4,7

Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis

Goethe

Hilf, heiliger Martin Luther, dass ich endlich den richtigen Mann finde …

Gebetszettel in der Wittenberger

Schlosskirche im September 2010

I

Eigentlich passte Wolfgang Trödler gut zu ihr. Nur die Weibergeschichten störten.

Zur Untreue hatte Wolle, wie sie ihn alle auf dem Campingplatz riefen, viele Gelegenheiten. Da waren die Frauen von den Dauercampern unten am See, direkt an der Blauen Bucht. Die Männer fuhren oft mit dem Motorroller alleine übers Land. Stundenlang. Hatten sie eine Geliebte, die sie besuchten? Kaum dass sie am Rezeptionshäuschen vorbeigebraust waren, ging bei Wolle eine SMS der alleingelassenen Frauen ein. Mal tropfte der Abfluss, mal war die Stromzufuhr defekt. Ob er mal schnell kommen könne. In den Blockhäusern des Campingplatzes mieteten sich manchmal Frauen, alleine oder zu zweit, ein. Dort fiel nach einer Weile des Einlebens erstaunlich oft ein Bild von der Wand oder die Mikrowelle streikte. Wer konnte da schnell und preiswert helfen? Wolle hier, Wolle dort. Mit bärengleichen Schritten tappte er über den Campingplatz. Nach ein, zwei, manchmal drei Stunden kehrte er zur Rezeption zurück. Man habe ihn noch zu einem Kaffee eingeladen, gab er in solchen Situationen beiläufig Rosemarie Aicher zu verstehen, seiner Lebensgefährtin. Sie war die Pächterin des Campingplatzes „Blaue Bucht“.

War ihre Eifersucht begründet? Einmal hatte sie den Zivildienstleistenden an die Rezeption gesetzt und war Wolle heimlich hinterhergeschlichen. Sie sah ihn mit halbem Körper unter einem Wohnwagen liegen. Er fummelte an den Leitungen am Unterbau des Wagens, neben ihm stand eine blondierte Sechzigjährige aus Leuna mit von der Sonne gegerbter Haut. Aus der Ferne sah sie, wie die trotz des Alters ungeniert bikinitragende Frau einen ihrer Füße mit lila lackierten Zehen direkt auf Wolles Bauch kreisen ließ. Rosemarie stürmte auf den Wagen zu, schob die Leunaerin zur Seite. Die zischte sie herablassend an und zündete sich eine Zigarette mit Goldfilter an.

„Lass doch den Fuß ruhig auf meinem Bauch, das beruhigt“, brummte es unter dem Wagen hervor. Rosemarie streifte sich blitzschnell einen Schuh ab und stieß ihren Fuß heftig in Wolles Speck.

„Holla, Liesel, kannst es wohl gar nicht erwarten“, stöhnte er lustvoll und robbte ans Tageslicht hoch. Ihm fiel die Wasserrohrzange aus der Hand, als er sah, wer ihm da so heftig den Bauch kujoniert hatte.

„Das habe ich nur getan, um ihn zu stabilisieren, damit er nicht seitlich wegkippt“, krächzte die Blondierte und drehte den Kopf nach oben.

„Ich will Ihnen mal was sagen“, keifte Rosemarie und einige Haarsträhnen hingen ihr in die Stirn, „wie soll ein Mann seitlich wegkippen, der so dick ist wie dieser und der gerade mal waagerecht unter den Wagen passt?“

„Ach Schätzchen“, sirrte die Leunaerin jetzt und blies ihr den Rauch ins Gesicht, „reg dich ab, dein Wolle hat mir nur einen Gefallen getan, der Süße, und dafür bekommt er jetzt auch einen Kaffee von mir.“

Rosemarie funkelte Wolle an, der etwas verunsichert zwischen den Frauen stand. Betreten schaute er auf die Erde und beobachtete eine Ameise, die ein weißes, für ihren Körper viel zu großes Ei auf dem Rücken transportierte.

„Ich werde dann wohl besser mal zur Rezeption gehen und wieder Gäste empfangen“, nuschelte er. Rosemarie stürmte schnaubend davon. Wolle gemächlich hinterher. Rosemarie konnte nicht mehr sehen, wie er der Liesel freundlich zuzwinkerte.

Wie sollte Rosemarie mit ihrer Eifersucht umgehen? Bis dahin war es nur ein Verdacht. Jetzt wusste sie es: Da war mehr zwischen Wolle und dieser Liesel aus Leuna als nur gemeinsames Kaffeetrinken. In ihr stiegen Bilder auf, Wolle in den Armen der Lederhäutigen, ihre lila Nägel in sein speckiges Rückenfleisch eingebohrt, es war zum Verzweifeln. Warum schämte Wolle sich nicht, ein solches Lotterleben zu führen? Sie beschloss, sich die Eifersucht einfach zu verbieten. Leicht gesagt. Sie wachte oft nachts auf, weil sie die Bilder nicht loswurde. Aber was war die Alternative? Wolle wegzujagen aus ihrem Leben? Das ging nicht. Sie war überzeugt, er liebte sie trotzdem. Doch, er passte gut zu ihr und zu ihrer Lebenslage, obwohl er dreizehn Jahre jünger war. Nur die Weibergeschichten störten.

„Moin, moin“, lachte ihm das Rentnerehepaar aus Cuxhaven entgegen, während er ihnen die Chipkarte und die anderen Unterlagen für den Campingplatz ins Auto reichte. „Wat is denn dat für’n Shietwetter, Wolle?“

„Na, ihr von der Küste müsst es ja wissen, wie das mit dem schönen Wetter ist!“, lachte er zurück. Der Regen prasselte auf das Dach der Rezeption. Durch die Scheibe des Holzhäuschens war Rosemarie zu erkennen, die die Mappen mit den Unterlagen für die neu eintreffenden Camper vorbereitete. Sie winkte dem norddeutschen Ehepaar zu, das schon seit vielen Jahren zum Urlaub an den Stausee kam.

Wolle zeigte den Neuankömmlingen die Richtung an, in der ihr diesjähriger Stellplatz lag. Handwerklich begabt, humorvoll, meist gut gelaunt, war Wolle auch äußerlich eine imponierende Erscheinung: Ein Brustkorb wie ein Panzerschrank, über den das lange weiche Haar seines ergrauten Vollbarts wallte. Obwohl nicht außergewöhnlich groß, füllte er mit seiner Tonnengestalt jeden Raum aus, vor allem wenn er dazu seine sonore Bassstimme ertönen ließ. Die alte Hornbrille auf der Stupsnase verlieh ihm etwas Verschmitztes. Mit seinen gerade mal fünfzig Jahren strahlte er etwas Väterliches, Beschützendes aus. Rosemarie bot ihm ein behagliches Zuhause und eine berufliche Perspektive. Sie beschäftigte ihn als geringfügig Verdienenden, darüber hinaus konnte er sich aus der Haushaltskasse bedienen. Das tat er vor allem dann, wenn er in die Stadt fuhr, um es sich, wie er es nannte, mal so richtig gut gehen zu lassen. Bezogen war das vor allem auf kulinarische Abenteuer. Vom Schweinebraten über die heiß geliebte Käsesahnetorte bis zum Latte Macchiato bei Giovanni, dem Italiener. Den Campingplatz hatte Rosemarie vor fünf Jahren übernommen, nachdem ihr Mann Eberhard an Lungenkrebs gestorben war. Anfangs tat sie sich schwer. Sie kannte sich nicht mit Buchführung aus, hatte keine Ahnung von Steuern und Versicherungen, von den vielen technischen Erfordernissen eines Campingplatzes ganz zu schweigen. Bis zum Tod ihres Mannes hatte sie die Gaststätte Seeklause auf dem Campingplatz geführt. Mit einem besonderen Angebot von Rosemarie hatte die Seeklause großen Zuspruch erfahren: Die Hobbyangler unter den Campern hatten die Möglichkeit, die in der Frühe in der Blauen Bucht geangelten Fische bei ihr abzuliefern. Sie bereitete sie ihnen am Abend zu einem Sonderpreis zu, mal die Forelle nach Müllerin Art, mal den Saibling gedünstet in Riesling-Senfsauce, immer mit Dill oder Mangold von der Blauen Bucht. Ihr Mann hatte den Campingplatz von der Gemeinde gepachtet, Rosemarie war seine Unterpächterin. Was sollte aber nach dem Tod von Eberhard geschehen? Ehe die Gemeinde ihr einen anderen Betreiber vor die Nase setzte, ging sie selbst zum Bürgermeister und sagte keck: „Ich mach es!“ Sie stellte einen Hilfstechniker auf Honorarbasis ein, außerdem Saisonkräfte vom Arbeitsamt und, weil der Campingplatz als besonders behindertenfreundlich zertifiziert war, immer wieder Zivildienstleistende. Für die Seeklause fand sich eine frühere Schulkameradin, die Rosemaries Tätigkeit fortführte.

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