In den USA selbst schritt die Spaltung der Gesellschaft noch weiter voran. Selbst die Medien, die eigentlich das Geschehen analysieren sollten, wurden immer mehr zu Meinungsmachern, die die Welt in Schwarz und Weiß, in Pro und Kontra sahen. Grautöne hatten keinen Platz. Am Ende der Amtszeit von Donald Trump stand das Undenkbare: ein Angriff auf eines der Symbole der Demokratie in den USA, das Kapitol, den Sitz des Kongresses. Jetzt diskutieren die USA, die „älteste Demokratie der Welt“, wie sie sich selbst nennen, über ihr Demokratieverständnis.
Joe Biden soll den Schritt zurück zur Normalität vollziehen. Kein leichter Schritt in einer gespaltenen Gesellschaft. Kein leichter Schritt für jemanden, der versprochen hat, das Land zu einen.
Nun blickt Europa aufs Neue mit Staunen und Bangen hinüber in die USA, wo der älteste Präsident, den das Land je hatte, eine Verjüngungskur einleiten soll – auch in den Beziehungen zur alten europäischen Welt. Gerne wird betont, der „Neue“ sei auf seine irischen Wurzeln stolz, und damit wird die Hoffnung verbunden, er fühle sich mit Europa schon allein dadurch fester verwachsen. Aber die Sicht auf die Welt hat sich auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans stark geweitet. Sowohl Europäer als auch Amerikaner blicken, weltpolitisch gesehen, heute vor allem nach Asien, wo dem wirtschaftlichen Aufstieg der letzten Jahrzehnte der politische und auch militärische Machtzuwachs ganz logisch zu folgen scheint.
Es könnte die Schlüsselfrage unseres noch jungen Jahrhunderts sein: Wird Asien, und dabei vor allem China, sich mit wirtschaftlicher Dominanz zufriedengeben? Oder werden wir ein Ringen um die politisch-militärische Vorherrschaft erleben, ein Ringen, das die Großmächte in einen neuen, verheerenden Krieg führen könnte?
Dieses Buch soll kein Rückblick sein, es soll zeigen, wo wir heute stehen – als logische Folge der Entwicklungen der letzten 20 Jahre – und in welche Richtung es weitergehen kann. Gezweifelt haben wir in diesen 20 Jahren an vielem, auch an unserem Weltbild.
Man sollte den Zweifel nicht geringschätzen. Es war der Philosoph René Descartes, der vor mehr als 350 Jahren das System des methodischen Zweifels erfunden und damit ganz wesentlich zum Aufstieg der westlichen Zivilisation beigetragen hat. An allem zu zweifeln, auch an dem, was früher ganz allgemein als natur- oder gottgegeben hingenommen wurde, das ist die Wurzel des Denkens der Moderne.
Aber unsere Zeit des Zweifels bringt ganz neue Ungewissheiten und Herausforderungen mit sich. Können wir lernen, auf diese neue Welt mit offenem Blick und ohne Panik zuzugehen? Wir möchten mit diesem Buch zumindest ein paar Wegweiser in den weltpolitischen Irrgarten der Zukunft stellen.
Wien, im Juli 2021
DIE STUNDE DER GEWALT Terror als Instrument der Politik
Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 war es für den damaligen US-Präsidenten George W. Bush eine naheliegende Maßnahme: Er rief zum „Krieg gegen den Terror“ auf. Aber schon damals wurde immer wieder eine Frage laut, auf die es bis heute keine verlässliche Antwort geben kann: „Wer kann in einem Krieg gegen den Terror jemals einen Sieg verkünden?“ Oder, anders gefragt: „Wie kann man jemals wissen, ob man diesen Krieg gewonnen hat?“ Jede Art von Siegesgewissheit kann schon am nächsten Tag zunichte sein. Es genügt ein einziger, zu allem entschlossener Überzeugungstäter, um einer stolzen Weltmacht ihr Versagen vor Augen zu führen.
Der Terror hat unseren Alltag verändert. Wir können in der Konfrontation mit diesem Phänomen meist nicht agieren, wir sind zum Reagieren gezwungen. Wir hinken dem Terror und seinen verschiedenen Spielarten immer hinterher. Für uns ist es völlig normal geworden, auf Flughäfen Sicherheitschecks über uns ergehen zu lassen. Aber wir müssen auch hinnehmen, dass dabei die Maßstäbe durcheinandergeraten und manchmal schon jeder Logik entbehren. Weil ein britischer Islamist versucht hatte, in einer Maschine mit Kurs auf die USA einen Sprengsatz in seinen Schuhen zu zünden, müssen alle Flugreisenden in den USA die Schuhe ausziehen und durchleuchten lassen, bevor sie an Bord einer Maschine gehen. In Europa dagegen besteht man normalerweise nicht auf dieser Maßnahme. Generell akzeptieren wir heute – in den USA wie in Europa – eine Fülle unterschiedlichster Eingriffe in unser Leben. Wir akzeptieren auch, dass die Behörden mit dem Argument der Terrorgefahr ihre Befugnisse erweitern – und dabei nicht selten übers Ziel schießen.
Das Szenario vom 11. September 2001 wird sich in dieser Form nicht wiederholen. Es ist nicht anzunehmen, dass es noch einmal gelingen kann, Passagierflugzeuge in fliegende Bomben zu verwandeln und einen Angriff mitten hinein ins Herz einer Millionenstadt zu fliegen. Aber Menschen, die bereit sind, zu einer Waffe zu greifen, um aus religiösem oder politischem Fanatismus auf andere Menschen loszugehen, wird es vermutlich immer geben. Vieles wurde versucht, es ihnen schwerer zu machen. Geheimdienste stellten ihre Lausch- und Schnüffelarbeit voll in den Dienst des Vorgehens gegen den Terror, schreckten auch vor Foltermethoden nicht zurück und hatten dabei immer vorwiegend eine Form des Fanatismus im Auge: islamistisch motivierte Gewalt, die Antriebskraft, die Osama bin Laden und seine Al-Kaida-Gruppe zum Exzess des 11. September getrieben hatte. Der Krieg gegen den Terror war ein Krieg gegen islamistischen Radikalismus, und wenn es zumindest einen Tag gegeben haben sollte, den man kurzfristig als Tag des Sieges in diesem Krieg empfinden konnte, dann war das der 2. Mai des Jahres 2011: der Tag, an dem ein US-amerikanisches Spezialkommando Osama bin Laden in der pakistanischen Stadt Abbottabad aufspürte und ihn mit tödlichen Schüssen niederstreckte.
Aber der jahrelange Fokus auf den islamistischen Extremismus nach der Spielart bin Ladens verdeckte andere Bewegungen, die mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Die Terrormiliz IS begann ihren Aufstieg im Irak und in Syrien, indem sie immer weniger wie eine heimlich agierende Terrorgruppe auftrat, sondern wie die Armee eines Staatswesens, das sie kurzzeitig sogar aufbauen und behalten konnte.
Anderswo entdeckten Rechtsextremisten ihre Chance, mit Gewalttaten auf sich und ihre gefährlichen Vorstellungen aufmerksam zu machen. Zu zwei ihrer schlimmsten Taten kam es ausgerechnet in Norwegen und in Neuseeland, wo niemand mit derart entschlossen auftretenden Tätern gerechnet hätte.
Und zuletzt hat politisch motivierte Gewalt auch noch eine ganz andere Dimension bekommen. Es war ausgerechnet ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der nicht mehr zum Krieg gegen den Terror aufrief, sondern ziemlich unverblümt zum Terror selbst, gegen den eigenen Staat und dessen verfassungsmäßige Ordnung, mit dem Sturm auf das Kapitol im Jänner 2021 als dramatischem Höhepunkt.
Wir schildern in der Folge mehrere Spielarten des Terrors, von einsamen Tätern, die sich mitten in der europäischen Zivilisation zu Kriegern für ein islamistisches Mittelalter hochstilisierten, bis hin zu hausgemachtem Terror, wie ihn Donald Trump vor dem Ende seiner Amtszeit von der Machtzentrale des eigenen Landes aus zu entfachen suchte.
Stadt in Angst
Peter Fritz
Zwei kurze, dumpfe Schläge. Ich höre sie sehr deutlich. Mit dem linken Ohr. Am rechten Ohr habe ich das Handy. Ich telefoniere, durch die weihnachtlich beleuchtete Altstadt von Straßburg flanierend, mit Bea, meiner Frau, in Wien. Ich denke mir in diesem Moment nicht viel dabei. Es hat für mein Ohr nicht nach Schüssen geklungen, eher nach harmlosen Böllern. Dann sehe ich Menschen auf mich zulaufen. „Schnell weg“, rufen sie. Noch immer will ich nichts wahrhaben von der Panik, die sich rundherum aufbaut. „Jetzt rennen die alle so nervös herum. Dabei war das sicher eine ganz harmlose Sache“, sage ich zu Bea noch, dann setze ich meinen Weg fort. Ich bin zum Essen verabredet, mit einer bunten Runde aus Medien und Politik, wie sie sich in Straßburg dutzendweise zu versammeln pflegen, wenn das Europäische Parlament dort tagt. Es ist der Abend des 11. Dezember 2018, kurz vor 20 Uhr.
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