„Was geschah dann?“
„Mit bloßen Augen konnte ich nicht erkennen, worauf der Mann blickte. Also nahm ich auch ein Glas und entdeckte ziemlich schnell, dass an dem großen Fenster der Elbphilharmonie eine Person klebte. Inzwischen hatte uns der Mann auf dem Boot gesehen. Wir gingen längsseits, und unser Polizeiobermeister fragte ihn, was er da mache. Er sagte, dass er zufällig die Person am Fenster bemerkt habe, als er auf dem Rückweg zu seinem Liegeplatz war. Wir haben sofort die Zentrale informiert und Kurs auf die Philharmonie genommen.“
Auf Spenglers Stirn erschien eine tiefe Falte. „Um den Mann auf dem Boot haben Sie sich nicht weiter gekümmert?“
Der junge Beamte hob die Schultern. „Er konnte kaum etwas mit der Sache zu tun haben. Also ließen wir ihn dort zurück.“
„Großer Fehler!“, knurrte Spengler. „Wir glauben, dass der Unbekannte durchaus etwas mit dem Mord zu tun haben könnte, doch dank Ihrer mangelnden Weitsicht wissen wir nicht, wer er ist.“
„Mord?“
„Glauben Sie, da hat sich einer freiwillig an die Scheibe geklebt?“
Schwenke schwieg und senkte den Kopf.
„Wir können das Boot bestimmt finden“, sagte er schließlich. „Ich weiß, wie es aussieht. Auf dem Fluss ist es schwer, ein Schiff zu verstecken. Es war nach einer Frau benannt.“
„Nach einer Frau?“, wiederholte Spengler überrascht. „Welche Frau?“
„Ich meine einen weiblichen Vornamen, es war irgendwas mit A. Anja oder Anna. Vielleicht auch Alina oder Anke.“
„Das ist doch ein Anfang. Es wird doch ein Schiffsregister geben, in dem die Namen aller Boote verzeichnet sind.“
Schwenke nickte. „Ja, das gibt es. Wir werden das überprüfen.“
Spengler richtete sich zu seiner vollen Größe von ein Meter siebzig auf. Er war der festen Überzeugung, dass damit auch seine Autorität wuchs. Dann wurde ihm bewusst, dass seine Freizeitkleidung – Jeans, leichte Jacke, Sneakers – diesem Anspruch nicht gerecht wurde. Er schätzte korrekte Kleidung sehr, doch für den nächtlichen Bereitschaftsdient hatte er sich nicht die Zeit für eine entsprechende Auswahl genommen.
„Außerdem sollten Sie sofort damit beginnen, das Boot zu suchen. Wir müssen es unbedingt finden, es hängt mit unserem Fall zusammen.“
„Jawohl, Herr Spengler. Ich werde meinen Vorgesetzten informieren.“
„Kommissaranwärter Spengler, wenn ich bitten darf.“
„Jawohl, Herr Kommissaranwärter!“
Er drehte sich um und marschierte zur Tür. Dann fuhr er plötzlich wieder herum, als ihm einfiel, worüber sein Chef gegrübelt hatte.
„Sagen Sie, diese Stelle in der Elbe, an der Sie das Boot angetroffen haben, ist da mal irgendetwas passiert?“
Der junge Beamte zog seine Stirn in Falten und dachte offensichtlich nach. Dann hellte sich sein Gesicht auf.
„Ja, jetzt, wo Sie danach fragen … Da war wirklich mal was. Letztes Jahr beim Hafengeburtstag hat es etwa an dieser Stelle einen Unfall gegeben. Eine kleine Privatjacht hat ein Motorboot gerammt. Dabei ist jemand ums Leben gekommen. Ein Mann, glaube ich.“
„Wo sind die Unterlagen darüber?“, fragte Spengler scharf und freute sich schon auf Brocks Gesicht, wenn er ihm die Neuigkeit mitteilte.
„Die müssten auf unserem Revier sein.“
„Sorgen Sie für Kopien. Aber heute noch!“
Der junge Beamte nickte nur müde. Seinen Sonntagsdienst hatte er sich anders vorgestellt.
Das prachtvolle Haus an der Elbchaussee war gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts gebaut worden und hatte die wechselvollen Stürme der Zeit nahezu unbeschadet überstanden. Es lag an einem Abhang zur Flussseite und besaß dadurch einen unverbaubaren Blick über die Elbe und den Hafen.
Die Elbchaussee war eine der berühmtesten Straßen der Hansestadt. Sie verband Altona mit Blankenese und galt als bevorzugte Wohnlage. Es gab schöne alte Villen, Parks und Nobelrestaurants. Von manchen Stellen aus hatte man einen herrlichen Blick über den Fluss und den Hafen.
Die Villa war zur Straße durch dichte Hecken und einen jahrzehntealten Baumbestand abgeschirmt und damit neugierigen Blicken entzogen. Zusätzlich gab es eine etwa mannshohe Mauer, unterbrochen von einem Gittertor aus Schmiedeeisen. Vom Tor führte ein gepflasterter Weg zu den abseits liegenden Garagen. Davor waren einige zusätzliche Stellplätze angelegt. Der Weg endete an einem breiteren Platz vor dem Haupteingang.
Eine leicht geschwungene Freitreppe führte zu einem säulengeschmückten Vorbau. Von dort ging es in die große Empfangshalle, die das Zentrum des Gebäudes bildete.
Aus dem Speiseraum auf der rechten Seite drang das Gewirr mehrerer Stimmen unterschiedlichen Geschlechts. Geschirr klapperte, Besteck klirrte.
Am Kopfende einer langen Tafel saß Anton Holler, der Patriarch der Familie und gleichzeitig ihr unangefochtenes Oberhaupt. An einem Sonntag im Monat pflegte er die Familie zu einem sogenannten Brunch zu versammeln, einer Mischung aus Frühstück und Mittagessen. Erscheinen war für alle Pflicht, und so waren auch heute alle zusammengekommen.
Anton Holler betrachtete sich selbst als erfolgreichen Geschäftsmann, und das war er auch. Er hatte die Reederei, die er von seinem Vater übernommen hatte, zu einem konkurrenzfähigen Unternehmen gemacht. Eine gewisse Eitelkeit konnte man ihm durchaus nachsagen. Aus seinem Alter machte er gegenüber Dritten ein Geheimnis, obwohl jeder wusste, dass er die siebzig bereits überschritten hatte. Zugegeben: Man sah es ihm nicht an. In seiner ganzen Erscheinung wirkte er deutlich jünger.
Anton Holler trug wie immer seinen dreiteiligen Anzug mit Einstecktuch. An der Weste war eine schwere goldene Kette befestigt, an der eine goldene Taschenuhr hing, die er vor vielen Jahren von seinem Vater bekommen hatte, als er in die Geschäftsführung der Firma einstieg.
Eines Tages würde sein Sohn sie bekommen. Wieso war er heute eigentlich nicht hier? Der Platz zu Hollers Linken war leer. Nun, er wird sicher gleich erscheinen. Markus verpasste das monatliche Treffen der Familie fast nie.
Anton Holler musterte die Gäste an seiner Tafel. Rechts von ihm saß seine Frau Elisabeth, die aufmerksam den Tisch überprüfte, ob alles in Ordnung war. Sie war jünger als er, was man ihr deutlich ansah. Sie war nicht seine erste große Liebe gewesen, aber die glücklichste, und das hatte sich in den vielen Jahren, seit sie verheiratet waren, nicht geändert.
Seine erste Ehe war ihm wie ein Rausch vorgekommen, aber das Glück hatte nicht lange angehalten. Sie hatten sich nach zwei Jahren wieder getrennt. Aus seiner jetzigen Ehe mit Elisabeth waren drei Kinder hervorgegangen, und sie waren das Wichtigste in seinem Leben.
Neben seine Frau hatte Tim Platz genommen, der einzige Sohn seines Bruders und damit sein Neffe. Sein Bruder war vor einigen Jahren gestorben, und sie hatten seinen Sohn bei sich aufgenommen, als er noch ein Teenager war. Inzwischen war er ein breitschultriger und groß gewachsener junger Mann mit fast schwarzen Haaren und hellen wachen Augen. Er trug ein buntes Oberhemd mit offenem Kragen, ein Outfit, das Anton Holler gerade noch durchgehen ließ. Tim arbeitete in seiner Reederei in der Lagerverwaltung.
Dieses Lager im Hafen war ein Relikt aus der Vergangenheit. Es wurde im Prinzip nicht mehr gebraucht, und es gab dort nur wenige Angestellte. Doch Tim erzählte ihm immer, dass der alte Bau immer noch wichtig war, um dort bestimmte Güter der Frachtschiffe zwischenzulagern. Nun, Tim schien seine Sache gut zu machen, also ließ er ihn gewähren. Manchmal allerdings hatte er den Verdacht, dass sein Neffe die Bedeutung dieses Lagerhauses etwas übertrieb.
Anton Hollers Blick schweifte zur anderen Seite des Tisches. Dort saß seine Tochter Maria mit ihrem Ehemann. Zwischen ihnen ihr dreijähriger Sohn Erik, dessen Kopf gerade eben über die Tischkante ragte. Sie unterhielten sich mit ihrem Sprössling, dem irgendetwas nicht passte. Holler war von der Hochzeit Marias mit einem Anwalt nicht unbedingt begeistert gewesen, doch seinen einzigen Enkel liebte er abgöttisch.
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