„Trifter“, sagte Dennis, „du bist der Beste. Ich möchte dir danken. Phantom-Papiere will ich jetzt nicht. Wenn du erlaubst, werde ich eine Weile untertauchen zu den U-Bahnkids. Zu Conny kann ich hoffentlich immer kommen, wenn sie nicht grade ein Konzert hat.“
Er sah, dass Conny nickte. „Noch etwas. Ich hab gestern mit Laura über die Schule gesprochen. Ich bin offiziell tot. Außerdem hab ich zu viel erlebt, um das noch einmal anzufangen. Aber ich möchte in die Schule der Kids gehen, wenn es die noch gibt. Ich kann einiges dazu beitragen, glaube ich.“
Trifter war hocherfreut. „Abgemacht. Aber bleib vorerst hier, solange Conny es dir erlaubt. Ich freue mich auf dich. Alle werden sich freuen.“ Er verabschiedete sich. Er hätte noch zu tun. Es gäbe noch zwei Abendseminare.
Conny erklärte Dennis, dass Trifter studierte. „Er lässt sich etwas Zeit. Er hat zu viele andere Aufgaben, aber es läuft ihm nichts weg. Trifter wird nie in die Verlegenheit kommen, um einen Job zu bitten. Er könnte jeden Job haben. Auch jetzt schon.“
Dennis lächelte. Er hatte nichts anderes erwartet.
Dann nahmen sie ihre Übungen wieder auf.
„So, sagte Dennis. „Das letzte Stück noch mal. Dann versuch es kämpferisch zu spielen, als wolltest du einer 5000 Mann starken Armee Mut zum Kampf einflößen.“ Er hörte zu. Er korrigierte. Er ließ manche Stücke noch mal und noch mal und noch mal spielen.
„Ich sehe, dass du begreifst. Deine Stücke da. Sie sind viel zu einseitig. Musik ist viel mehr als das. Deine Komponisten haben die Stücke für bestimmte Stimmungen geschrieben. Höfischer Tanz, kirchliche Rituale, bürgerliches Spektakel, so etwas. Vielleicht auch nur, um zu zeigen, was sie drauf haben. Ich habe gelernt, dass Musik Lebenbedeutet. In all der Bandbreite. Es kann jede kleine und große Gruppe in bestimmte Richtungen beeinflussen. Du bist der Dirigent. Wenn dir das gelingt, dann bist du frei.“
„Wenn du willst, fahre ich mit dir nach Südamerika. Besorg mir auch Unterlagen über die Musik in andern Ländern. In Afrika, Asien, den Steppen Russlands und Sibiriens. Ich will mehr darüber wissen.“
All das hatte Conny längst auch gewusst, aber sie hatte dieses Klangerlebnis dennoch nie gefunden. Dennis zeigte ihr das Ganze in einer Klarheit und Deutlichkeit auf, die verblüffend einfach schien.
„Ich habe alle Konzerte bis zu meinem Abitur aufgeschoben. Aber lass uns jeden Tag üben, wenn du willst. Ich bin froh, wenn du mir zuhörst und mich korrigierst. Ich habe auch meinen Geigenlehrer. Er kommt manchmal. Du kennst ihn.“
Es war ein langer Nachmittag geworden. „Ich bin müde“, hatte Conny gesagt. Es waren viele neue Ideen. Ich muss das erst noch verarbeiten. Ich brauche meinen Nachtschlaf. Morgen ist wieder ein anstrengender Schultag. Lass uns etwas essen."
Noch in ihren Vorbereitungen kündigte sich Laura an. Sie war glücklich, die beiden Freunde zu sehen, aber auch sie war müde. Sie aßen etwas, dann sagte Dennis. „Ich muss raus hier. Ich weiß, dass ich keine Papiere habe, aber ich werde mir zu helfen wissen. Trifter hat mir eine Monatskarte gegeben. Ich kann überall hin. Wollen wir ein wenig laufen? Es ist noch lange hell. Vielleicht an den Müggelsee?” Laura war einverstanden. Vielleicht war es genau das, was sie jetzt auch brauchte. Sie nahmen einen Schlüssel vom Bord (Laura kannte den Platz) und sagten der Wache Bescheid. Dann verließen sie das Haus. Es wurde eine schöne Nacht.
Der Himmel war sternenklar - zumindest für Berliner Verhältnisse. „Du hättest einmal den Himmel da unten sehen sollen“, sagte Dennis. „Das hier über uns ist nur ein trüber Abklatsch. Dann zeigte er Laura einige Sternbilder. „Die Menschen da unten haben sich ganz nach Sternen und der Sonne gerichtet. Sie hatten Kalender, die über viele Jahre im Voraus für jeden Tag genau den Sonnenaufgang und Untergang festlegten. Wirbrauchen dafür einen Chronometer und so ein Zeug. In diesen Sachen waren uns die Indios weit voraus.“
Dann hatte Dennis gesagt „Ich werde noch ein paar Tage bei Conny bleiben, aber ich werde hier verrückt. Ich bin es nicht gewohnt, eingesperrt zu sein. Ich muss etwas tun. Ich werde zu den Kids geh’n. Mal seh’n, ob die Aufgaben für mich haben. Du weißt, wo du mich finden kannst.“
Er ergänzte, „übrigens, wohnt Conny alleine in diesem riesigen Haus?“ Laura schüttelte den Kopf. „Im Westflügel gibt es eine zweite Wohnung. Dort wohnen Connys Eltern. Wir haben sie dir noch nicht vorgestellt, weil das vielleicht riskant ist. Wir wollen nichts unbedachtes tun. Conny geht manchmal rüber zu ihnen, aber sie lassen Conny völlig in Ruhe.“
Kapitel 2. Die schwierige Suche nach der Identität
1.
Am nächsten Vormittag dachte Dennis lange nach. Er war alleine. Er hatte Zeit. Die Sache mit seiner Identität ging ihm nicht aus dem Kopf. Es passte ihm nicht, dass er den Namen und die Rolle eines Fremden übernehmen sollte. Da war da diese Stiftung um die er sich kümmern wollte. Da waren diese Kids seiner alten Gruppe: Allan, Susi und Roman. Da war seine Mutter und da war Conny… Er würde den Freunden schlecht erklären können, dass er plötzlich einen andern Namen trägt, oder dass er ganz woanders geboren ist, dass seine Mutter und sein Vater auf einmal ganz andere gewesen sein sollen, also, dass er eigentlich gar nicht Dennis ist.
Auf diese Freunde wollte er aber in keinem Fall verzichten. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. All das mit der angenommenen Identität eines andern kam ihm unehrlich und verlogen vor. Wie sollte das gehen, mit einer falschen Identität für seine Freunde oberhalbder Tunnel zu sorgen? Er wollte kein Leben im Untergrund.
Im Dunkel der Tunnel, im Verborgenen der Illegalität, da war das kein Problem. Aber dann könnte er auch offiziell tot bleiben und illegal weiterleben. Dann bräuchte er nicht einmal einen Pass. Das wäre sogar der beste Schutz gegen eine Entdeckung durch die „Men in Black“. Aber das würde Dennis nicht reichen. Er hatte Ziele. Wie sollte er mit einer falschen Identität Conny auf ihren Reisen begleiten und erklären, warum gerade er für Conny den Berater spielt? Die Direktorin, der Dirigent. Alle kannten ihn. Wenn er die Öffentlichkeit nicht scheuen wollte, so musste er seine eigene frühere Identität wiedererlangen.
Dennis behielt seine Gedanken zunächst für sich.
Als Conny kam, gab sie Dennis einige Bücher und einige CDs. Sie gab ihm Kopfhörer und einen kleinen Recorder. Sie selbst lernte zunächst für die Schule.
Dennis überflog die Bücher. Es ging über Kulturen und ihre Musik. Die CDs enthielten Flamenco, chinesische Oper und indonesische Gammelanmusik.
Dennis hörte genau zu. Ja. Einiges war urtümlich. Manches kam dem ganzen schon recht nah. Dennoch fehlte irgendwas. Er grübelte, aber er kam nicht drauf.
Irgendwann kam Conny. Sie sei fertig. Sie fragte nach Dennis Meinung. Dennis winkte zunächst ab.
„Gleich kommt mein Geigenlehrer“, sagte Conny. „Dann können wir das von gestern mal fortführen und mit ihm besprechen.“
Dennis kannte den Geigenlehrer bereits. Ein kleiner dunkelhaariger Mann in einer grauem Weste. Dennis hatte ihn nie anders gesehen, als in dieser grauen Weste, die er auch heute wieder trug. Der Name passte zu seinem Äußeren. Alois Punkbacher. Aber Alois war nicht der tumbe Bayer, den man hinter dem Äußeren vermuten konnte. Er konnte mal Geige spielen, wie kaum ein Zweiter, aber ein Unfall hatte seine beiden Hände gebrochen. Danach war es mit dem spielen vorbei. Alois Punkbacher war Geigenlehrer geworden.
Alois war erst überrascht, dann tief erschüttert und schließlich überglücklich, als er Dennis lebend vor sich sah. Er befühlte Dennis, um sich zu vergewissern, dass er wirklich vor ihm stand. Er umarmte Dennis. Ein paar Tränen liefen die Wangen herunter. Er wischte sie verschämt weg. Aber dann wurde er ganz der Lehrer. „Ich wäre heute sowieso gekommen, aber Laura hat etwas angedeutet. Was habt ihr beide da ausgeheckt?“
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