Sie aßen schon früher zu Abend, um ausreichend Zeit zu haben, sich für das Fest herauszuputzen. Zu früh vielleicht, aber andererseits hatte Tante Ida für den Anlass ein Hochzeitsmahl vorbereitet und man brauchte Zeit, um alle Köstlichkeiten aufzutischen.
Auf dem Erntefest könnten sie dann alles verdauen.
Am längsten ließen natürlich die beiden Damen des Hauses wegen ihrer Vorbereitung auf sich warten. Helios hatte wenig Lust, er war so, wie er sich vor dem Frühstück angezogen hatte, schon startklar. Ercole zog eine Jeans an und schmierte sich ein paar Kilo Gel ins Haar, das spurlos darin verschwand.
Libero war unter den Männern derjenige, der die meiste Zeit benötigte. Er kam erst aus seinem Zimmer, als er fertig war. Er strahlte, er trug eine blaue Caprihose mit einem Hemd darüber, das die Hawaiianer für übertrieben gehalten hätten, ihm aber durchaus gut stand.
Seine Augen funkelten, dieses Dorffest war eines seiner liebsten.
Sobald alle fertig waren, versuchte Helios vergeblich, dieser Qual zu entgehen, aber er wurde von der Begeisterung seiner Tante überwältigt, die fast nicht wiederzuerkennen war. Sie trug ein schwarzes Blumenkleid, Schuhe mit Absätzen, offenes Haar und Make-up. Sie hakte sich bei ihm ein und führte ihn aus dem Haus.
Auf der Straße konnte man neben den herkömmlichen Lichtern und bunten Fähnchen die Dekorationen bewundern, die die Veranstalter des Festes dieses Jahr angefertigt hatten.
Am Straßenrand schmückten Heuballen in allen nur erdenklichen Formen und Größen das Dorf.
Im Zentrum war das Denkmal der Gefallenen von riesigen Strohrollen umgeben.
Auf dem Hauptplatz gab es eine Bühne, auf der die Blaskapelle ihre Instrumente arrangierte.
Rund um die Tanzfläche standen Stühle, auf denen die älteren Menschen bereits Platz genommen hatten und sich unterhielten, während sie darauf warteten, der Jugend beim Tanzen zuzusehen. Die Jüngsten rannten bereits auf der Tanzfläche herum und imitierten die Großen, die sie bei den Tänzen, die in Kürze beginnen würden, behutsam meiden würden.
Hauptgesprächsthema an diesem Abend war die Ankunft im Dorf von Gaia und Helios, den Kindern von Carlo und Giulia. Die älteren und erwachsenen Dorfbewohner erzählten sich von den Erinnerungen an die Jahre, die die beiden im Dorf verbracht hatten.
Wie üblich, gab es einige Ungereimtheiten: die einen hatten die beiden als Draufgänger in Erinnerung, andere als gute Menschen, während die ehemaligen Schulfreunde sich an die geschwänzten Schultage erinnerten, die sie mit Spielen und Faulenzen auf den Feldern verbracht hatten.
Die einen erkannten in Helios das Gesicht seines Vaters, die anderen in Gaia, andere wieder meinten in keinem der beiden irgendeine Ähnlichkeit zu erkennen und machten die Großeltern dafür verantwortlich.
Das Blasorchester begann die Instrumente aufzuwärmen. Es war fast alles bereit. Der Moderator oder besser gesagt der Mann, der jedes Jahr die Ansprache hielt, lud die üblichen Amtsträger des Dorfes ein, auf die Bühne zu kommen.
Schließlich beendete er seine Rede und auch die Danksagungen an die Sponsoren, begleitet vom allgemeinen Desinteresse der Bürger, die anfingen zu gähnen. Jetzt klatschten sie Beifall, in der Hoffnung, dass die Reden beendet waren und das Orchester endlich zum Tanz aufspielen könnte.
Sobald bekannt wurde, dass der Pseudo-Moderator die Bühne verlassen würde, nahm der Applaus zu. Der Dirigent machte einen kleinen Sprung und mit einer Handbewegung schwenkte er den Dirigentenstab zum Auftakt der Posaunen. Im Takt folgten das Schlagzeug, dann die Saxophone und schließlich die Klarinetten.
Der erste, der auf die Tanzfläche sprang, war Libero, zusammen mit seiner Lieblingspartnerin, mit der er jedes Jahr den Tanz eröffnete. Entgegen der Vorstellung, die man sich aufgrund der Beschreibung von Libero machen könnte, war er ein anmutiger Tänzer und die Frauen des Dorfes liebten es, jedes Jahr mindestens eine Runde mit ihm auf der Tanzfläche drehen zu können. Das galt sowohl für die jüngeren als auch für die älteren Damen, denen er es nie an Aufmerksamkeit fehlen ließ. Er liebte es zu tanzen und konnte diese Leidenschaft vermitteln, ohne mehr Interesse als tanzen an seinen Tanzpartnerinnen zu haben.
Die Tanzfläche füllte sich, Gaia erhielt eine Reihe von Tanzaufforderungen, die sie nicht abwies.
Helios hatte einen Augenblick lang ein seltsames Gefühl, ohne es zu merken, hatte sein Fuß angefangen, im Takt zu wippen.
Sobald der Tanz unförmlicher wurde und bevor er sich weigern konnte und man sich nur an der Hand halten und drehen brauchte, ergriff Tante Ida seine Hände, die an seinem Körper baumelten, und tanzte mit ihm am Rand der Tanzfläche.
Seltsamerweise wehrte sich Helios nicht, er spürte einen Augenblick lang, wie ihn der Rhythmus packte, er hatte Spaß und seine Wangen schmerzten bei dieser seltsamen Verrenkung, die seine Gesichtsmuskeln seit Jahren nicht mehr gewohnt waren.
Er schaffte es, von den Händen seiner Tante an die von mehreren neugierigen Mädchen des Dorfes weitergereicht zu werden, die ihn amüsiert anstarrten.
Am Ende der Tanzrunde kehrte Helios auf seinen Platz zurück und spürte, wie ihm das Blut durch die Muskeln schoss. Plötzlich begann das seltsame Pfeifen in seinen Ohren wieder und zwang ihn, sich vom Platz zu entfernen. Die Musik, die ihn kurz zuvor noch amüsiert hatte, wurde ohrenbetäubend.
Er lief zur grünen Wiese neben der Kirche, die voller Oldtimer-Traktoren stand, die dort ausgestellt wurden, und auf der es von kleinen Kindern wimmelte, die sie unermüdlich anstaunten und um sie herum liefen.
Helios setzte sich in eine dunkle Ecke und beobachtete sie.
Das ganze Gelächter hallte in ihm wider und erinnerte ihn an etwas - das Echo eines entfernten, längst begrabenen Glücks.
Er beneidete ein Kind, das glücklich auf den Vater zulief und seine Hand ergriff. In seinem Kopf versuchte eine tief begrabene Erinnerung aufzusteigen: die Wärme und der Geruch der Hand seines Vaters.
Ein stechender Schmerz durchbohrte seine Schläfen, hinderte ihn daran zu denken, er fasste sich mit beiden Händen an den Kopf, ihm war kalt.
„Helios, was machst du hier allein? Ist dir nicht gut?“
Die Tante, die ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen verloren hatte, setzte sich zu ihm. Helios antwortete nicht.
Ida legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn liebevoll an sich. Aber er spürte die Wärme nicht. In seiner Welt war es wieder kalt geworden.
An diesem Abend, als sie zum Bauernhof zurückkehrten, redete Gaia ununterbrochen davon, wie sehr sie sich amüsiert hatte und von ihren neuen Freunden.
Sie schliefen zum ersten Mal auf dem Dachboden, das Bett hatten sie unter dem Oberlicht aufgestellt, genau so, wie Gaia es sich gewünscht hatte, die in die Sterne blickend einschlief.
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