Luna Al-Mousli - Klatschen reicht nicht!

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Reboot the system!
Eine Million Menschen arbeiten österreichweit in «systemrelevanten» Berufen. 65 % davon sind Frauen und größtenteils Migrant*innen. Es sind Berufe mit schlechter Bezahlung, hoher psychischer und körperlicher Belastung. Ob Altenpflege, Lebensmittelverkauf, Kinderbetreuung, Reinigung oder Transportwesen, ohne diese Berufe würde unser System zusammenbrechen. Dementsprechend viel wurde zu Beginn der Corona-Pandemie geklatscht, doch ihre Leistungen werden weder politisch noch gesellschaftlich anerkannt, geschweige denn finanziell gerecht entlohnt.
Luna Al-Mousli hat jene Menschen porträtiert, die seit Beginn der Pandemie am meisten gefordert sind und mittlerweile an den Rand ihrer Kapazitäten angelangt sind. Sie fordern grundlegende Veränderungen, Anerkennung und Aufwertung: Klatschen allein reicht nicht!

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Luna Al-Mousli

Klatschen reicht nicht!

Systemheld*innen im Porträt

ILLUSTRIERT VON CLARA BERLINSKI

Für Oma und Opa die ihre Kinder so erzogen haben dass sie der neuen - фото 1

Für Oma und Opa, die ihre Kinder so erzogen haben, dass sie der neuen Gesellschaft, in der sie leben, etwas zurückgeben: als Dankeschön oder als Beweis, wie wichtig ihre Rolle in der neuen Heimat einmal sein wird. Unverzichtbar werden ihre Kinder sein, und so auch sie. Verwurzelt in der Gesellschaft und systemrelevant.

Für meine Tante, die in jedem*r ihrer Schüler*innen Potenzial und Talent sieht, aber vor allem Verständnis für deren unsichtbare Herausforderungen hat.

Für meine Tante, die für ihre Patient*innen oft auf sich selbst vergisst und sich von Schicksalsschlägen nicht entmutigen lässt.

Für meine Mama, die für ihre Klient*innen das Ankommen zu vereinfachen versucht und ihnen einen Weg zeigt, wo andere keinen sehen.

Für meinen Onkel, der für seine Patient*innen immer sein Bestes gibt.

Für meine Schwester, die jedem Kind mit offenem Herzen begegnet und es durch die ersten Bildungsschritte begleitet.

Inhalt

Vorwort: Solmaz Khorsand – Journalistin & Autorin

Hala, 44: Muttersprachen- und Hilfslehrerin in einer Neuen Mittelschule

Diana, 29: Betreuerin in einer privaten Kinderwohngemeinschaft

Christopher, 33: Postbeamter

Vesna, 42: Abteilungshelferin im Spital

KOMMENTAR: İnci Ardıç – Psychotherapeutin in Privatpraxis und Lektorin an der Sigmund-Freud-Universität, Wien

Aynur, 40: Heimhelferin

Hussein, 25: Eisenbieger

Nathalie, 29: Mitarbeiterin der AMS-ServiceLine

Antonia, 53: Leiterin der Telefonseelsorge

KOMMENTAR: Mirijam Hall – Ärztin

Maria, 58: Sozialarbeiterin im Frauenhaus

Somia, 53: Mobile Sozialassistentin und Beraterin für Menschen mit Migrations- und Fluchterfahrung

Stefan, 31: Mitarbeiter und Führungskraft in einer Lebensmittelhandelskette

ESSAY: Soma Ahmad – Politikwissenschaftlerin und Kolumnistin für das Qamar-Magazin

Mohammad, 21: Freiwilliger Sanitäter beim Roten Kreuz

Katrin, 28: Ergotherapeutin

Ahmad, 29: Lagerarbeiter

KOMMENTAR: Brigitte Theißl – Journalistin und Erwachsenenbildnerin

Ali, 25: Fahrradbote bei einem Essenslieferdienst

Ani, 59: Pflegeassistentin im Altersheim

Sesilia, 28: Kindergartenpädagogin

Nana, 30: Psycho-soziale*r Fachbetreuer*in

KOMMENTAR: Vina Yun – Journalistin und Autorin

Leokadia, 22: Sozialarbeiterin in der Obdachlosenhilfe

Lisa, 46: Krankenschwester

NACHWORT: Barbara Blaha – Autorin, Gründerin des Politkongresses Momentum

VORWORT

Solmaz Khorsand – Journalistin & Autorin

Das Koordinatensystem einer Gesellschaft ist ein starres. Es braucht weltbewegende Ereignisse, um es durchzuschütteln. Eine Pandemie kann da schon das erste Beben verursachen, uns zwingen, einmal genauer hinzusehen, wer in diesem System oben und wer unten steht. Und vor allem weswegen. Ob dieses Oben tatsächlich da oben zu verorten sein müsste, oder doch eher woanders. Denn das Unten ist es definitiv. Das ist ganz plötzlich Elite. Ja, es hat schon eine Pandemie gebraucht, um diese neue Elite auszumachen. Um zu begreifen, auf wen es tatsächlich ankommt, wenn es eng wird. Wer springen muss, wenn alle anderen fallen dürfen. Wer ausrückt, während der Rest zu Hause bleibt. Es sind nicht jene unter uns, die Woche um Woche ihre Perspektive in den Kommentarspalten, Fernsehdiskussionen und Podcasts mit der Welt teilen dürfen. Bequem, sicher, lauschig aus den eigenen vier Wänden. Um gutes Geld, viel mehr, als jene bekommen, denen wir vom Balkon aus gnädig zuklatschen, dafür dass sie unsere Verwandten beatmen, für uns Waren in Regale einschlichten, unsere Pakete zustellen und unsere Kinder betreuen.

„Die Kluft zwischen Gleichheit vor dem Gesetz und Ungleichheit in der Wirklichkeit füllte bislang das unschuldige Wort Leistung“, hat die deutsche Wochenzeitung Die Zeit einmal geschrieben, „dass es ein gerechtes Unten und Oben gibt, wurde mit ‚Leistungsunterschieden‘ begründet.“

Gerne werfen Politiker mit diesem „unschuldigen Wort“ um sich, um dieses gerechte Unten und dieses gerechte Oben einzuzementieren. Es fällt immer dann, wenn es darum geht, alles beim Alten zu lassen, die Last einer Gesellschaft auf den Einzelnen abzuwälzen und jene zu beschämen, die es nicht schaffen, sich am Ende der Nahrungskette anzusiedeln. Wenn sie sich doch nur ein bisschen mehr anstrengen würden, ein bisschen mehr Ehrgeiz, ein bisschen mehr Kampfgeist zeigen würden. So wie die wenigen, die es aus eigener Kraft nach oben geschafft haben. Nur deren Leistung hat sie dahin gebracht, wo sie heute stehen. Nicht die Familie, die Verhältnisse oder das Erbe waren dafür verantwortlich, nein, nur die eigene Leistung. Nicht wahr?

Eisern wird an dieser meritokratischen Selfmade-Illusion festgehalten. Dabei gibt es den Wohlstand, der aus eigener Kraft erarbeitet wurde, nicht mehr, wie die Autorin und Journalistin Julia Friedrichs in ihrem Buch „Working Class“ belegt. Wer heute reich ist, ist Profiteur seiner Verhältnisse. Nichts da mit Leistung. Wer es geschafft hat, hat es nicht alleine geschafft. Andere haben vor ihm und vor ihr geschafft. Alles andere ist Irrglaube. Das sieht selbst eine neue Generation von jungen Erbinnen ein. Sie wollen nicht länger in der goldenen Hängematte liegen, sie wollen wirklich „leisten“, so wie Marlene Engelhorn. Die junge Frau gab im Fernsehen bekannt, dass sie ihr Millionenerbe, das sie von ihrer Großmutter bekommen wird, zu 90 Prozent verschenken werde. „Radikal teilen“ will sie, sich nicht auf ihrem „schieren Geburtenglück“ ausruhen. In einem Statement sagt sie: „Wir brauchen eine Umverteilung von Reichtum, Land und Macht, und wir brauchen einen transparenten und demokratischen Prozess – für mich bedeutet das: Vermögenssteuern.“

Vielleicht ist man dann einem gerechteren Oben eine Spur näher. Und schafft gar ein ganz neues Koordinatensystem, das weniger von „unschuldigen“ Wörtern verzerrt wird.

Hala 44 Muttersprachen und Hilfslehrerin in einer Neuen Mittelschule Die - фото 2

Hala, 44

Muttersprachen- und Hilfslehrerin

in einer Neuen Mittelschule

Die Corona-Ampel steht auf Rot, Wien befindet sich im Lockdown. Ich stehe vor dem Schloss Schönbrunn beim Haupteingang. Es ist Anfang Februar 2021, und der eisige Wind erinnert mich daran, dass noch Winter ist. Doch die Sonne im Gesicht tut gut, und so macht mir das Warten auf Hala nichts aus. Sie kommt einige Minuten zu spät zu unserem Treffpunkt, da sie ihrer Tochter bei den Schulaufgaben helfen musste. Die Schulen sind derzeit geschlossen, doch sie sollen – im Schichtdienst – bald wieder geöffnet werden.

Hala ist alleinerziehende Mutter von zwei Töchtern. Die ältere ist 17 und die jüngere 12 Jahre alt. Hala hat in Wien Arabistik, Orientalistik und Anglistik studiert, zog nach Dubai und arbeitete dort viele Jahre an einer internationalen Schule. Nun ist sie in Wien und unterrichtet als Muttersprachen- und Hilfslehrerin an einer Mittelschule. Sie ist Hilfslehrerin, weil sie keinen Lehramtsabschluss hat. „Meine Unterrichtserfahrungen der letzten Jahre zählen in Österreich nicht, obwohl gerade in der Schule Erfahrung mehr zählen sollte als Abschlüsse.“ Schnell fügt sie hinzu, wie froh sie ist, dass zumindest die Schuldirektorin hinter ihr steht und sich für sie einsetzt. Sie sprach bereits mit dem Stadtschulrat, doch am Ende konnte sie nichts erreichen.

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