Mit Segregationsgesetzen versuchte man ganz bewusst einen Keil zwischen die armen Weißen und die Afroamerikaner zu treiben. Diese Diskriminierung legte es darauf an, bei den Weißen der unteren Klassen ein Gefühl der Überlegenheit gegenüber den Schwarzen zu wecken, was es sehr viel unwahrscheinlicher machte, dass sie sich mit ihnen politisch gegen die weiße Elite verbündeten. Das war wieder eine »Racial Bribe«, eine bereits bewährte Taktik. »Solange die armen Weißen ihren Hass und ihre Enttäuschung auf die schwarzen Konkurrenten richteten, blieb den Pflanzern eine gegen sie gerichtete Klassenfeindschaft erspart«, schrieb William Julius Wilson. 26Um die wohlbegründeten Befürchtungen der armen und ungebildeten Weißen zu zerstreuen, dass auch sie, nicht anders als die Schwarzen, ihr Wahlrecht verlieren könnten, führten die Führer der Bewegung vor der Rechtsenteignung der Schwarzen zunächst in allen Bundesstaaten eine aggressive Kampagne durch, in der sie die Überlegenheit der weißen Rasse zum Thema machten.
Am Ende gaben die Populisten dem Druck nach und ließen ihre früheren Verbündeten im Stich. »Auf dem Höhepunkt der Bewegung [der Populisten] hatten die beiden Rassen einander und ihre Gegner mit ihrer Eintracht und guten Zusammenarbeit überrascht«, bemerkte Woodward. 27Aber als klar wurde, dass die Konservativen vor nichts zurückschreckten, um dieses Bündnis zu zerstören, löste sich die rassenübergreifende Partnerschaft auf, und die Führer der Populisten reihten sich bei den Konservativen ein. Selbst Tom Watson, einer der stärksten Befürworter einer Allianz der Farmer gleich welcher Hautfarbe, kam zu dem Schluss, dass die Prinzipien der Populisten vom Süden nur angenommen würden, wenn die Schwarzen aus der Politik ausgeschlossen wurden.
Die Krise der Landwirtschaft sowie eine Reihe gescheiterter Reformen und gebrochener politischer Versprechen hatten zu einem starken Anstieg der sozialen Spannungen geführt. Die herrschenden Weißen sahen nun, dass es in ihrem politischen und wirtschaftlichen Interesse lag, die Schwarzen zu Sündenböcken zu erklären. So wurde die »Erlaubnis zum Hass« gegeben. Ihr schlossen sich auch Kräfte an, die sich zuvor einer solchen Politik verweigert hatten, darunter die Liberalen aus dem Norden, die sich mit dem Süden aussöhnen wollten, die Konservativen aus dem Süden, die einst den Schwarzen versprochen hatten, sie vor rassistischen Extremisten zu schützen, und die Populisten, die ihre dunkelhäutigen Verbündeten im Stich ließen, als die Partnerschaft mit ihnen unter Beschuss geriet. 28
Die Geschichte schien sich zu wiederholen. So wie die weiße Elite nach Bacons Rebellion erfolgreich einen Keil zwischen die armen Weißen und Schwarzen getrieben hatte, indem sie die Institution der schwarzen Sklaverei erfand, tauchte beinahe zwei Jahrhunderte später ein neues rassisches Kastensystem auf, teilweise aufgrund der Bemühungen der weißen Eliten, eine multirassische Allianz der Armen zu verhindern. Um 1900 hatten sämtliche Staaten des Südens Gesetze erlassen, die die Schwarzen entrechteten und sie in praktisch allen Bereichen des Lebens diskriminierten. Die rassistische Ausgrenzung erfasste Schulen, Kirchen, das Wohnungswesen, den Arbeitsplatz, Toiletten, Hotels, Restaurants, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Gefängnisse, Beerdigungsinstitute, Leichenhallen und Friedhöfe. Politiker wetteiferten miteinander um immer strengere Diskriminierungsmaßnahmen und erließen manchmal geradezu lächerliche Gesetze (beispielsweise ein Verbot für Schwarze und Weiße, miteinander Schach zu spielen). Über das gesamte politische Spektrum hinweg unterstützten die Weißen öffentliche Symbole, die ständig an die Unterjochung der Schwarzen erinnerten. An den Nöten der armen Weißen änderte sich unterdessen nichts. Die »Racial Bribe« zahlte sich für sie allenfalls psychologisch aus.
Die neue Rassenordnung, die unter dem Namen Jim Crow bekannt wurde – der Ausdruck stammt von der Karikatur eines Schwarzen aus einer Minstrel Show – wurde als »abschließende Lösung«, »Rückkehr zur Vernunft« oder als »das dauerhafte System« betrachtet. 29Natürlich hatte auch das vorherige System auf Rasse gegründeter Gesellschaftskontrolle – die Sklaverei – bei seinen Unterstützern als unabänderlich, vernünftig und ewig gegolten. So wie das vorherige System schien auch Jim Crow »natürlich«, und man konnte sich kaum noch daran erinnern, dass Alternativen nicht nur schon einmal möglich gewesen, sondern beinahe sogar umgesetzt worden waren.
Akademiker streiten sich seit langem darüber, wann die Reconstruction begann und endete, auch darüber, wann Jim Crow endete und die Bürgerrechtsbewegung oder »zweite Reconstruction« begann. Für die Ära der Reconstruction gibt man in der Regel den Zeitraum von 1863 bis 1877 an, in dem die Truppen der Nordstaaten den Süden besetzt hielten. Viel weniger klar ist, wann die Ära von Jim Crow begann und wann sie endete.
Die Öffentlichkeit verknüpft das Ende von Jim Crow gewöhnlich mit der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Fall Brown v. Board of Education , die zum Verbot der Rassentrennung an den Schulen führte, obwohl das System schon Jahre vorher Schwächen zeigte. Um das Jahr 1945 kamen immer mehr Weiße im Norden zu der Überzeugung, dass sich das Jim-Crow-System dringend ändern müsse, wenn nicht gar ganz abgeschafft gehöre. Dieser Konsens hatte eine ganze Reihe von Gründen, darunter die gewachsene politische Macht der Schwarzen infolge einer starken Abwanderung nach Norden sowie die steigenden Mitgliedszahlen und den zunehmenden Einfluss des NAACP, insbesondere seine äußerst erfolgreiche Kampagne, vor Gerichten gegen die Jim-Crow-Gesetze zu Felde zu ziehen. Viele Forscher hielten jedoch den Einfluss des Zweiten Weltkriegs für viel bedeutender. Der offenbare Widerspruch zwischen dem Widerstand des Landes gegen die Verbrechen des Dritten Reichs an den europäischen Juden mit der andauernden Existenz eines rassischen Kastensystems in den Vereinigten Staaten war peinlich und beschädigte den Anspruch des Landes, Führer der »freien Welt« zu sein. Zudem befürchtete man, die Schwarzen könnten angesichts von Russlands Einsatz für rassische und wirtschaftliche Gleichheit empfänglich für den Einfluss der Kommunisten sein, wenn man nicht für größere Gleichheit sorgte. Gunnar Myrdal hielt 1944 in seinem einflussreichen Buch An American Dilemma ein leidenschaft liches Plädoyer für die Integration der Schwarzen. Der inhärente Wider spruch zwischen der »American Creed«, dem Glaubensgrundsatz der USA an Freiheit und Gleichheit, und der Behandlung der Afroamerikaner, so Myrdal, sei nicht nur unmoralisch und zutiefst ungerecht, sondern schade auch den wirtschaftlichen und außenpolitischen Interessen des Landes. 30
Das schien auch der Oberste Gerichtshof so zu sehen. Im Jahr 1944 beendete er mit seinem Urteil im Fall Smith v. Allwright die Praxis, dass nur Weiße an den Vorwahlen der Parteien, in denen die Kandidaten für die eigentliche Wahl bestimmt wurden, teilnehmen durften; und im Jahr 1946 entschied dasselbe Gericht, dass die Gesetze der Bundesstaaten, die Rassentrennung im Fernbusverkehr vorschrieben, verfassungswidrig seien. Zwei Jahre später erklärte das Gericht alle Immobiliengeschäfte für nichtig, die Käufer wegen ihrer Hautfarbe diskriminierten, und 1949 verkündete es, dass das allein Schwarzen vorbehaltene Jurastudium in Texas grundsätzlich nicht dem der Weißen entspreche, sondern in jeder Hinsicht schlechter sei. 1950 verfügte es im Fall McLaurin v. Oklahoma , dass der Bundesstaat die Rassentrennung im Jurastudium aufheben müsse. Der Oberste Gerichtshof hatte also schon vor dem Brown-Urteil wichtige Schritte zur Aufhebung der Rassentrennung unternommen.
Trotzdem war der Fall Brown v. Board of Education von ganz besonderer Bedeutung. Er nahm dem Süden die Möglichkeit, in Rassenfragen seine eigene »Hausordnung« aufzustellen. Auch frühere Entscheidungen hatten bereits an der Devise »getrennt, aber gleich« gekratzt, doch immer wieder war es Jim Crow gelungen, sich an die jeweils neue Rechtslage anzupassen, und die meisten Menschen in den Südstaaten waren weiterhin zuversichtlich, dass die Institution als solche überleben würde. Die Brown -Entscheidung drohte nun nicht nur, die Rassentrennung in öffentlichen Schulen ganz zu Fall zu bringen, sondern mit ihr zugleich das gesamte System legalisierter Rassentrennung im Süden. Nach mehr als fünfzig Jahren der Duldung und Nichteinmischung in die Rassenangelegenheiten des Südens leitete dieses Grundsatzurteil einen neuen Kurs ein.
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