Ich brauche frische Luft! Ich öffne das Fenster und lehne mich hinaus. Es ist herbstlich. Der Himmel ist gnädig, passt seine Farbe meiner Stimmung an: Herbstnebel-Anthrazit. Mein Bein beginnt zu zappeln.
»Nebel ergibt rückwärts gelesen Leben«, denke ich. »So wie dieser Tag hat mein Leben an Klarheit und Kontur verloren, ist herbstzeitlos.«
Ich könnte spazieren gehen, mich unter Menschen wagen, meine Freundin anrufen und ihre Ausdauer strapazieren, indem ich zum wiederholten Male mein Drama vor ihr ausbreite, obwohl die Handlung und die Akteure dieselben sind und das Ende noch offen ist. So wie in den letzten drei Wochen, die ich mit sinnloser Betriebsamkeit füllte, um meine innere Leere zu kompensieren, ständig auf der Suche nach Menschen, die mir helfen sollten, mir selbst zu entrinnen. Ich brauche Ablenkung von mir selbst und meinen Gedanken, weiß aber gleichzeitig, dass ich sie überallhin mitnehme. Wenigstens eine kurze Pause könnten sie mir doch gönnen und nicht ununterbrochen meinen Kopf belagern. Einsamkeit lässt sich nicht so einfach beseitigen. Sehnsucht auch nicht.
Während ich unentschlossen aus dem Fenster starre, fällt mir ein, woran mich diese Situation erinnert. Es ist wie ein Déjà-vu! Und dann – zum ersten Mal seit diesen letzten paar Wochen – empfinde ich ein Gefühl der Freude und der Erleichterung.
»Traugott!«, rufe ich laut aus, so laut, dass drei Passanten auf der anderen Straßenseite neugierig zu mir hinaufsehen und sich dann schnell wieder abwenden, eifrig miteinander flüsternd. Ich muss Traugotts Notizen finden, fein säuberlich für mich niedergeschrieben auf pastellfarbenem Papier!
Es ist schon Jahre her, dass ich sie zuletzt in Händen hielt, und noch viel länger, dass ich Traugott das letzte Mal sah. Ein frischer Lufthauch bläst die ersten Blätter von den Bäumen und ich spüre, wie einzelne Haarsträhnen, die sich aus meinem Zopf lösen, zärtlich über mein Gesicht streichen. Und während ich den Passanten nachsehe, die sich noch einmal kurz nach mir umdrehen, und das Fenster wieder schließe, kann ich endlich meinen Kopf für Erinnerungen frei machen, die heilsamer sind als das übliche Gedankenkarussell.
»Traugott«, seufze ich erleichtert. »Wie es ihm wohl gehen mag?«
Aufgeregt taste ich im hintersten Winkel meines Kleiderschranks nach der beigen Schachtel, in der ich ein paar Erinnerungen aufbewahrt habe. Sie duftet nach Lavendel. Die Notizen sind alle handgeschrieben, sorgfältig eingeklebt in ein fadengebundenes Notizbuch mit festem Einband aus cremefarbenem Leinen, dunkelbraun verstärkten Ecken und einem roten Lesebändchen. Es enthält eine willkürliche Sammlung dessen, was Traugott damals wichtig für mich erschien und das einer von uns beiden später für wert erachtet hat aufzuschreiben. Traugott sammelte einige Notizen auch auf seiner Wortewand. Ich knie vor der offenen Schachtel und beginne zu lesen:
1. Notiz
Es gibt nur die Gegenwart. Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern und die Zukunft steht noch nicht fest. Alles was ist, ist jetzt. Sei zufrieden mit dem Jetzt, so wie es ist. Denn jetzt ist alles, wie es ist, und jetzt lässt sich jetzt nicht ändern, denn es ist ja.
Du hast immer die Wahl. Es bedarf keines bestimmten Grundes, um Freude zu empfinden. Man muss es nur entscheiden.
Ich kann mir jetzt gerade nicht vorstellen, mich zu entscheiden, bedingungslos Freude zu empfinden.
»Ich wäre schon bereit, mich dafür zu entscheiden, glücklich zu sein – vorausgesetzt, Simon kommt zurück und bittet mich in einem Meer aus Blumen um Verzeihung«, sage ich ins Leere, als ob Traugott vor mir stünde.
Ich könnte wieder losheulen. Schon wieder ein Satz mit einem Konjunktiv.
»Ach Traugott, wie schwierig das doch ist, wie gerne wäre ich jetzt ein bisschen wie du!« Ich blättere die Seite um.
2. Notiz
Niemand außer dir ist für dein Glück verantwortlich. Wenn du dein Lebensglück anderen aushändigst, machst du dich abhängig.
Abhängig zu sein heißt gefangen zu sein, gefangen von den Gedanken, Gefühlen, Worten und Taten eines anderen. Das kann nicht Ziel deines Lebens sein, denn Gott hat dir Freiheit geschenkt. Mach niemals dein Glück von Entscheidungen anderer abhängig, denn dann bist du nicht frei.
Wenn du dich selbst nicht liebst, bist du auf die Liebe anderer angewiesen. Wenn diese Liebe dann einmal ausbleibt, fällst du in ein Loch und niemand ist da, der dich auffängt. Wenn du aber dich selbst liebst, ist immer jemand da, der dich liebt. Nämlich du. Andernfalls bist du wie ein Fähnchen im Wind, welches dorthin weht, wohin andere es pusten.
Wo bleibt deine Standfestigkeit? Du hast zwei Beine, benutze sie um fest auf dem Boden zu stehen!
Wenn jemand gut zu dir ist, fühlst du dich gut. Und wenn jemand schlecht zu dir ist, fühlst du dich schlecht. Dann lebst du und verhältst dich so, als hättest du kein Anrecht auf den Platz, den du in dieser Welt beanspruchst. Und dann hast du Angst vor dem Alleinsein.
Du bist abhängig von der Zuneigung, der Wertschätzung, ja schon von der Anwesenheit anderer. Es ist ganz klar: Wenn du für dich selbst nicht da bist und alleine bist, bist du einsam. Das ist der Unterschied zwischen alleine und einsam sein.
Ein Mensch, der sich selbst liebt und anerkennt, ist niemals einsam. Er ist allein mit sich, aber er fühlt sich nicht getrennt vom Rest der Welt. Nur wer alleine sein kann, ohne sich einsam zu fühlen, ist wirklich frei. Ohne Selbstliebe kannst du im Leben nicht bestehen. Liebe dich selbst wie deinen Nächsten, heißt es, dann wird alles gut. Du bist für dich verantwortlich und diese Verantwortung kannst du nicht abgeben. Sei gut zu dir und es wird dir schlagartig gut gehen.
Als ich ein kleines Mädchen war, hat Traugott begonnen, meine Welt zu verändern. Das war an einem Tag im Mai, ein paar Wochen vor meinem 10. Geburtstag. Er schien wie jeder andere Tag zu sein. Auch damals wartete ich darauf, dass jemand, den ich sehr liebte, zu mir nach Hause zurückkam.
Ganz allmählich kehren die Erinnerungen an diese Begegnung zurück und mit ihnen, ganz zögerlich, ein dünner Hauch von dem Schwung, den ich in den letzten Wochen verloren habe.
***
Ich heiße Theo. Mit der heutigen Distanz I kann ich sagen, dass auch mein Name fürwahr nicht modern ist, denn eigentlich heiße ich Matthea, aber alle nannten mich von klein an Theo. Ich sah mit meinen schulterlangen blonden Haaren zwar aus wie ein Mädchen, trug aber ausschließlich Hosen, spielte gerne Fußball und war lieber mit den Jungs aus meiner Klasse zusammen. Am liebsten trug ich knielange Shorts, was bei meiner Mutter, die mich gerne in kurzen Kleidern gesehen hätte, manchmal auf Widerstand stieß.
Meine Mutter und ich wohnten erst ein paar Monate in einer kleinen alten Straße mit Kopfsteinpflaster in der Nähe des Münzamts. Die Straße war schmal. Die Häuser waren nicht höher als vier oder fünf Stockwerke. Jedes hatte eine andersfarbige Fassade in zarten, unauffälligen Pastelltönen.
Es gab nur ganz wenige Wohnhäuser, einen Blumenladen, einen Buchladen und ein kleines Restaurant. Meine Mama sagte oft: »Es ist ein Segen, dass wir hier wohnen. Hier ist es ruhig und sicher und alle Menschen, die hier wohnen, sind freundlich.«
In unserer Straße war die Welt in Ordnung. Sie sagte, unsere Straße strahle solch eine Beschaulichkeit aus, dass man meinen könne, alle Menschen hier seien mit der Welt einverstanden.
Vom Fenster meines Zimmers aus sah man seitlich auf Camilles Blumenladen. La vie en rose hieß ihr Geschäft und der Schriftzug leuchtete rosa in der Nacht.
»Wenn Freude eine Farbe wäre, wäre sie rosa«, sagte meine Mutter oft. »Versuche rosa zu denken, wenn du traurig bist, oder male ein Unglück in Rosa aus, dann bist du gleich viel weniger unglücklich.«
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