Nico ist zu einem Piratenfest eingeladen. Mit einem schwarzen Kohlestift male ich ihm Bartstoppeln auf Wangen und Kinn, binde ihm eine schwarze Augenklappe und ein rotes Kopftuch um und schneide Fransen in seine alte Jeans. Er schnappt sich sein Plastikschwert, tritt damit vor den Spiegel und fragt sichtlich zufrieden:
»Schau ich zum Fürchten aus, Mama?«
»Wenn ich nicht wüsste, dass du es bist, würde ich aus Angst weglaufen«, sage in einem sehr ernsten Ton.
Er schlingt seine Arme um meinen Hals und lacht. Seine Aufgeregtheit und Lebensfreude sind Glück pur. Schnappschuss. Glück pur, kurz festgehalten. Mein Herz fließt über. Ich mache noch ein paar Fotos von ihm in verschiedenen Kampfstellungen, die wir uns am Computer ansehen, und wünschte, Simon wäre jetzt da. Die Einsamkeit wird einem am meisten bewusst, wenn man einzigartige Momente wie diese nicht mit jemandem teilen kann.
Wir ziehen uns an. Draußen ist es merklich kühler geworden, fast zu kalt für September. Ich suche noch einmal die Hausnummer heraus und fahre Nico zum Piratenfest. Am Haustor hängen bunte Luftballons. Er springt aus dem Auto und läutet. Ich warte, bis ihm das Tor geöffnet wird. Nico dreht sich noch einmal kurz um, lacht und winkt. Und dann ist er in sein Vergnügen entschwunden. Er ist gerade einmal acht Jahre alt und ich empfinde wieder einen dieser kurzen Momente der Rührung und tiefen Dankbarkeit.
Ich notiere in mein Notizbuch: Es wäre gut, allmählich wieder in meine Mitte zu kommen und Verantwortung zu übernehmen. Für uns beide. Bevor ich es zuklappe, lese ich Haarshampoo und deshalb halte ich noch schnell am Supermarkt. Ich habe vier Stunden nur für mich, bevor ich Nico wieder abholen soll.
***
Drei Wochen sind seit unserer Trennung vergangen. Manchmal ändert sich das Leben von einem Moment zum anderen. Er sagte, er habe Angst vor dem Leben, das er nicht lebte. Er litt an der Trivialität seines Lebens und es war das ungelebte Leben, das ihm waghalsiger, aufregender, inspirierender und bunter erschien. Er wollte etwas Neues, etwas Kühnes, etwas Unverbrauchtes. Er fürchtete, etwas zu versäumen im Wetteifer nach Vergnügen, und er wollte die Freiheit, seine neue Liebe zu genießen.
Ich hätte gerne die Zeit zurückgedreht bis zu dem Wendepunkt, an dem sich die Inseln des Schweigens zu bilden begonnen hatten. An diesem Punkt hätte ich vielleicht noch etwas ändern können. Im Laufe der letzten Monate baute sich zwischen uns eine Fremdheit auf, die erdrückend war und die sein zunehmendes Desinteresse bekundete. Es hilft nicht, in Krisenzeiten die ganz normale Alltagsroutine weiterlaufen zu lassen. Es kommt der Tag, da genügt ein Wort und man ist mit dem konfrontiert, was man schon die ganze Zeit gewusst und betulich im Innersten zu verdrängen versucht hat. Wenn wir heutzutage unsere Erwartungen an unsere Beziehung nicht erfüllt sehen, so scheint es, versuchen wir es einfach mit einer neuen. Beziehungen scheitern, weil das Verhältnis zu alltäglich geworden ist. Die rauschhafte Unbedingtheit und die Euphorie der ersten Jahre sind verschwunden und leise schleichend in eine andere Form der Zweisamkeit übergegangen.
Wenn wir uns auf serielle Lebensbündnisse mit beschränkter Haftung einlassen, ist dies eine Möglichkeit, die Unbeschwertheit der ersten Zeit immer wieder neu zu erleben, ohne dass sich Gewohnheit einschleichen kann.
Nachdem man auch in der Schule nichts über die Liebe gelernt hat, geht man ins Kino und gibt sich dem süßlichen Schwindel hin, romantisch und leidenschaftlich lieben zu müssen. Bedeutet Gewohnheit zwangsläufig irgendwann das Ende einer Beziehung? Verhindert sie anhaltende, tiefe Liebe im Alltag oder fehlt es uns letztendlich nur an Dankbarkeit und Wertschätzung für den anderen?
Er ging. Einfach so. Lautlos. Ein Glas fällt zu Boden und zerbricht. Zurück bleiben Scherben. So fühlt es sich also an, wenn man den Boden unter den Füßen verliert. Zur maßlosen Enttäuschung gesellte sich eine tiefe Sehnsucht und beides mündete mit den Tagen in eine traurige Ermattung, die fast schon an Bedürftigkeit grenzte. Die Sehnsucht klebte bereits am ersten Abend in meinem Schlafzimmer. Sie verbreitete sich in der gesamten Wohnung und krallte sich fest, saß an den Wänden fest und lauerte überall. Sie tropfte sogar aus der Espressomaschine, der Kaffee schmeckte bitter.
Wenn man einen Menschen verliert, verliert man ihn nach und nach, zu so vielen verschiedenen Zeitpunkten, an so vielen Orten, bei so vielen Tätigkeiten. Jede noch so banale Alltagstätigkeit erinnert mich an ihn und jetzt, wo er nicht mehr da ist, ist er immer präsent. Noch immer kann ich keinen klaren Gedanken fassen, sie drehen sich immer nur im Kreis und beinhalten immer einen Konjunktiv: könnte, hätte, würde, wäre.
Nico hat in diesem Monat nur wenige Male nach ihm gefragt. In seiner Anwesenheit reiße ich mich zusammen und versuche, meinen Kummer zu verbergen. Ich habe ihm gesagt, sein Vater sei vorübergehend nicht da und müsse zurzeit sehr viel arbeiten. Es war dumm, aber mir ist nichts Besseres eingefallen. Tatsächlich hoffe ich ja auch insgeheim, dass sich zwischen uns nur eine Kette von Missverständnissen aufgebaut hat und sich die Klammer unserer Trennung wieder schließen wird. Aber die Wahrheit ist: Ich bin zu feige. Für die Wahrheit braucht man Mut. Wenn man sie in einer anderen Form präsentiert, ist sie vielleicht weniger schmerzhaft.
Kindern kann man aber nichts vormachen. Sie beobachten alles und tief im Inneren wissen sie alles, auch wenn sie es erst viel später mit dem Verstand begreifen. Sie haben Sensoren für jede Ungereimtheit und jede noch so geringfügige Unstimmigkeit. Er hat nicht nachgebohrt, möglicherweise auch aus Angst vor der Antwort. Vielleicht ist der Schmerz leichter zu ertragen, wenn man ihm nicht direkt in die Augen sieht. Wieder zu Hause, beschließe ich, mir einen Kaffee zu machen, pendle dabei meine innere Anspannung aus, indem ich mich abwechselnd auf das rechte und das linke Bein stelle. Diese wippende Bewegung sieht vollkommen lächerlich aus und ich bin froh, dass mir niemand zusieht. Der Kaffee schmeckt wieder bitter, auch im Nachgeschmack.
Mir rinnen die Tränen herunter. Ich setze mich auf das Sofa und warte. Ich warte auf etwas ‒ ohne zu wissen worauf. Dabei bade ich förmlich in Selbstmitleid und drohe darin zu ertrinken. Jegliche Dynamik ist mir abhandengekommen. Ich bin müde, unendlich müde vom Weinen und von der Sehnsucht und müde, weil ich in dem Bett, das mir so weit und leer vorkommt, nicht mehr schlafen kann. Ich sehne mich nach einem tiefen, traumlosen Schlaf, weil nur der Schlaf die Seele vor der Verzweiflung rettet.
Zurückweisungen sind schwer annehmbar. Es ist, als würde ich aus der Welt hinausfallen oder als wäre ich von der Liebe und allen anderen Menschen getrennt. Ich fühle mich seltsam fehl am Platz. Die Welt fühlt sich so fremd und unnahbar an, als wäre ich zufällig hier gelandet und würde nicht dazugehören. Hinzu kommt ein schier unstillbares Verlangen nach Anerkennung und nach Bestätigung der eigenen Wichtigkeit. Das Schlimmste an der Trennung ist die Gewissheit, dass er jetzt ohne mich lacht, dass er ohne mich fröhlich ist und dass ihn mein Kummer nicht im Geringsten berührt. Er, der mein engster Vertrauter war.
Für einen Moment will ich wieder Kind sein und meine Sorgen einfach der Fürsorge eines Erwachsenen übergeben, der es besser versteht, damit umzugehen, jemandem, der ein Pflaster auf die Wunde klebt, mich in den Arm nimmt und mir glaubhaft versichert, dass alles bald wieder gut ist.
Ich habe Sehnsucht nach der Zeit, in der das Leben nur Gegenwart oder Zukunft war, in der die Worte Vergänglichkeit und Erinnerung keine Bedeutung hatten. Ich habe Sehnsucht nach der Zeit, in der die Liebe nicht mit Leid einherging und ich Verlust noch nicht kannte. Ich wünsche mir auch, es wäre jemand da, der mir hilft, mich außerhalb der Zeit zu bewegen, die angeblich die Wunden heilt. In mein Notizbuch schreibe ich: »Ist der Schmerz über den Verlust des Geliebten überhaupt heilbar? Bin ich heilbar? Kann ich der Liebe ein weiteres Mal vertrauen? Wird es ein weiteres Mal geben?«
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