Wenn ihr euch einmal erkältet und ihr fühlt zur gleichen Zeit, daß euer Herz offen ist, könnt ihr zu dem Schluß kommen, daß euer Herz offen ist, weil ihr euch erkältet habt. Ihr schreibt der Erkältung das Verdienst zu, eurer Erkrankung, statt vier Jahre Arbeit, die es geöffnet hat. Die Erkältung ist wahrscheinlich in Wahrheit eher Ausdruck eines Widerstandes gegen weitere Öffnung. Krank werden ist häufig Ausdruck eines Widerstandes gegen Ausdehnung.
Diese Unterscheidungsfähigkeit ist sehr wichtig, nicht nur in bezug auf Orientierung – worüber wir früher gesprochen haben –, sondern auch in bezug darauf, welches die wirklichen Einflüsse in eurem Leben sind. Wenn ihr die Anerkennung nicht dem gebt, der sie verdient, dann entwertet ihr, was wirklich zu diesen Veränderungen geführt hat, was das Wachstum in Wirklichkeit bewirkt hat – eure eigene Arbeit, eure Fähigkeiten, eure eigene Essenz.
Meiner Erfahrung nach haben viele meiner Freunde ihre Essenz erfahren, aber nicht verstanden, was es war, weil sie meistens entwerteten, was sie selbst getan hatten. Jedesmal wenn sie zu etwas anderem weitergingen, zu einer anderen spirituellen Lehre oder Disziplin, zu einer anderen Methode der Selbsterforschung, entwerteten sie, was sie eben gelernt hatten und warfen alles weg. Sie warfen ihr Verstehen weg und was sie bekommen hatten, was von Wert war. Dann mußten sie wieder ganz von vorn anfangen. Ich hatte Glück, ich entwertete nichts. Immer wenn ich zu etwas Anderem weiterging, verstand ich genau, was ich bei dem gelernt hatte, bei dem ich bisher gewesen war. Und ich fand, daß das von ziemlicher Tragweite ist.
Manchmal ist es nicht leicht zu sagen, was zu Verstehen und Klarheit in eurem Leben beiträgt. Aber wenn ihr erkennen könnt, was es ist, dann bewegt ihr euch zunehmend auf eure Essenz zu, weil nur Essenz das kann. Wenn ihr aber eure Entwicklung äußeren Dingen zuschreibt, dann urteilt ihr nicht nur falsch, ihr verlangsamt auch den Prozeß, der in Wirklichkeit zu eurer Entwicklung beigetragen hat, oder haltet ihn sogar an. Ihr sagt eurer Essenz: „Auf dich kommt es nicht an.“ Und das ist ein Angriff auf eure Essenz; ihr greift eure Essenz an. Die eigene Essenz entwerten ist ein Aspekt eures Ego oder eures Über-Ich. Nach meiner Beobachtung erkennen Menschen oft nicht an, was wirklich geschieht oder welches die Kraft ist, die in ihnen wirkt, und zwar genau aus dem Grund, weil es etwas in ihnen gibt, das sich dagegen wehrt, Essenz zu sehen und zu erfahren. Es ist nicht nur ein Fehler in der Beurteilung; es steckt eine aktive Motivation dahinter. Es ist eine Abwehrfunktion des Über-Ich. Nicht nur das – andere Menschen sehen vielleicht eure Veränderungen, schreiben sie aber etwas anderem zu, so daß ihr praktisch keine Unterstützung oder Anleitung von der Welt um euch herum bekommt. Wenn Menschen die wirkliche Kraft in euch nicht anerkennen, die zu den Veränderungen in eurem Leben geführt hat, dann aus dem Grund, weil sie einen Widerstand dagegen haben, diese Kraft in sich selbst wahrzunehmen. Sie selbst wollen die Wahrheit nicht sehen, deshalb wollen sie sie in euch nicht anerkennen. Meiner Erfahrung nach ist es wichtig, daß ich weiß, was wirklich meine Veränderungen und meine Entwicklung bewirkt. „In der Welt, aber nicht von der Welt“ erstreckt sich darauf, die wirklichen Ursachen zu sehen, die wirklichen Kräfte, die in allem wirken, was wir tun.
Gibt es Fragen, Kommentare?
S.: Ist es möglich, daß manche Menschen – ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll – daß manche Menschen mehr Essenz haben, die sich in ihnen bewegt und arbeitet und sich zeigt, als andere Menschen, auch wenn sie ihrer Essenz vollkommen unbewußt sind?
A.H.: Ja, das kommt vor. Das sind die Menschen, die Gurdjieff „dumme Heilige“ nennt, was bedeutet: Sein ohne Wissen.
S.: Und andere Menschen fühlen sich zu ihnen hingezogen, weil sie diese Eigenschaft wollen oder brauchen?
A.H.: Sicher. Manchmal haben sich Menschen essentiell entwickelt, ohne an sich zu arbeiten, einfach weil sie von Anfang an nicht allzu beschädigt wurden.
S.: Und dann ist ihre Essenz da, sichtbarer, wegen eines Zufalls, oder einer Begabung…
A.H.: Eins dürfen wir hier nicht vergessen, Essenz hat nichts mit Begabung zu tun. Ein Mensch kann sehr talentiert, aber zugleich vollkommen mit seiner Persönlichkeit identifiziert sein. Essenz ist, wie ich schon sagte, „in der Welt, aber nicht von der Welt.“ Talent ist Teil dieser Welt. Natürlich kann Essenz die Entwicklungsmöglichkeiten der Talente, die schon da sind, fördern und zur Reife bringen. Aber intelligent oder nicht intelligent, auf die eine oder andere Weise kreativ sein, das hat nichts mit Essenz zu tun.
1Paul Reps: „Ohne Worte, ohne Schweigen“, München 1993
Heute werden wir einen Gedanken diskutieren, der für unsere Arbeit hier grundlegend ist. Es ist die Theorie der Löcher. Menschen sind unter normalen Umständen voll von dem, was wir „Löcher“ nennen. Was ist nun ein „Loch“? Ein Loch bezieht sich auf jeden Teil von euch, der verloren gegangen ist, das heißt jeden Teil von euch, dessen ihr euch nicht mehr bewußt seid. Was dann bleibt, ist ein Loch, in einem gewissen Sinn ein Mangel. Und das, dessen wir uns nicht mehr bewußt sind, ist natürlich unsere Essenz. Wenn wir unserer Essenz nicht bewußt sind, hört sie auf, sich zu manifestieren und ist verloren. Dann haben wir ein Gefühl von Mangel. Ein Loch ist also nichts anderes als die Abwesenheit eines bestimmten Teils unserer Essenz. Es kann der Verlust von Liebe, von Wert, der Verlust der Fähigkeit für Kontakt, Verlust von Stärke, von Willen, von Klarheit, von Lust, von irgendeiner dieser Qualitäten von Essenz sein. Es gibt viele solche Qualitäten. Wenn sie aber verloren sind, sind sie es nicht für immer; sie sind niemals für immer weg. Man ist einfach von ihnen abgeschnitten.
Nehmen wir zum Beispiel die Qualität von Wert, von Selbstwertgefühl. Wenn ihr von eurem Selbstwertgefühl abgeschnitten seid, dann ist der aktuelle Zustand des Abgeschnittenseins ein Gefühl, daß etwas ein Loch in euch zurückgelassen hat; da ist es leer. Dann hat man ein Gefühl von Mangel, ein Gefühl von Unterlegenheit, und man möchte es mit Wert von außen füllen – Anerkennung, Lob, was auch immer. Man versucht also, das Loch mit Scheinwert zu füllen, der von außen kommt.
Jeder Mensch läuft mit einer Menge Löcher herum, aber gewöhnlich ist man sich ihrer nicht bewußt. Gewöhnlich ist man sich bewußt, daß man etwas begehrt: „Ich möchte dies, ich möchte das. Ich möchte dieses Lob, ich möchte hier erfolgreich sein, ich möchte, daß dieser Mensch mich liebt, ich möchte diese oder jene Erfahrung.“ Die Existenz von Begierden und Bedürfnissen zeigt die Existenz von Löchern an.
Natürlich sind diese Löcher in eurer Kindheit, teilweise als Ergebnis von traumatischen Erfahrungen oder Konflikten mit eurer Umwelt, entstanden. Unter solchen Umständen wird man von einer dieser Qualitäten abgeschnitten. Vielleicht schätzten eure Eltern euch nicht wert, das heißt, sie behandelten euch so, als seien eure Wünsche oder eure Präsenz unwichtig. Sie handelten nicht so, daß euch das Wissen vermittelt wurde, daß ihr zählt. Sie ignorierten euren essentiellen Wert. Und weil euer Wert nicht gesehen oder anerkannt, vielleicht sogar angegriffen oder herabgesetzt wurde, wurdet ihr von dem Teil von euch abgeschnitten, und es blieb ein Loch, ein Mangel.
Später, wenn wir zu jemandem eine tiefe Beziehung haben – je tiefer sie ist, um so mehr geschieht das –, füllen wir diese Löcher mit dem anderen Menschen. Manche unserer Löcher werden mit dem gefüllt, wovon wir glauben oder fühlen, daß wir es vom anderen bekommen. Wir fühlen uns wertgeschätzt, weil dieser bestimmte Mensch uns schätzt, und das füllt unsere Löcher. Wir sind uns nicht bewußt, daß wir es mit seiner Wertschätzung füllen, wir fühlen uns einfach voll, wenn wir mit ihm zusammen sind; wir fühlen uns wertvoll. Wenn ich mit diesem Menschen zusammen bin, fühle ich also wirklich, daß ich wertvoll bin, aber unbewußt fühle oder weiß ich, daß der andere Mensch meinen Wert besitzt. Der andere bewirkt nicht nur, daß ich mich wertvoll fühle, sondern alles was er mir gibt, ist ein Teil von mir, ist Teil dieser Fülle, die ich erfahre.
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