„Wir haben keinerlei Garantie, dass wir auch nur eine der Bedingungen erfüllen können“, wandte sie leidenschaftlich ein, nachdem die Verhandlungen längst vorbei waren. Diplomatin, die sie nun mal war, hatte sie während des Gesprächs kein Wort über ihre Bedenken verloren. Es hätte ja auch sehr wahrscheinlich ihrer aller Tod bedeutet. Doch ihre Liebe zur Wahrheit wehrte sich vehement gegen die Tatsache, dass sie etwas versprachen, das sie sehr wahrscheinlich nicht einhalten konnten. Chara sah wiederum nur den Sieg des Augenblicks. „Jetzt und hier brauchen und haben wir eine Lösung“, warf sie zurück. „Den Rest überlegen wir uns später.“
Schließlich hatte ihnen Schendru den Weg zu den Blaks erklärt, und sie vereinbarten einen Treffpunkt. Der Scorpio wollte sie wiedersehen – an der Grenze zwischen den Gebieten der beiden verfeindeten Völker.
„Diessse Grenzsse zssieht sssich durch die Mitte desss Kontinentsss“, erklärte er. „Sssie trennt die Wüssste vom Dssschungelgebiet, das die Blaksss bewohnen. Die Grenzsse issst ein Gebirgssskamm. Ein weitesss, flachesss Tal ssspaltet den Gebirgssszssug in zsswei Teile. In diesssem Tal liegt der Ort Kuir.“
„Was ist das für ein Ort?“, wollte Chara wissen.
„Wir nennen ihn auch den Ort der Qualen.“
Und da war sie wieder, diese Betroffenheit in seinen Kriegeraugen. Er sagte, dass die Scorpios alle einhundert Sonnenläufe dort hinwanderten, um sich „zu erinnern“. Woran sie sich erinnerten, und warum sie ihn den Ort der Qualen nannten, erläuterte er nicht weiter. Er behauptete nur, dort auf sie zu warten, nachdem sie mit den Blaks Kontakt aufgenommen und über ihr Friedensangebot verhandelt hatten.
Am zehnten Tag nach der Schlacht im Wüstenkessel erreichten sie endlich die Küste. Sie verabschiedeten sich von Schendru und traten den Weg zum Strand an, wo sie zum Hauptstützpunkt zurückkehrten.
Vor über fünfzigtausend Sonnenläufen … Solange war es also her, dass sich die Scorpios und Blaks verbündet hatten – gegen die Thanatanen, wohlgemerkt, die sie versklavt hatten.
Fünfzigtausend. Diese Zahl hatte sich in Charas Verstand gebrannt. Diese Zahl war mittlerweile legendär. Vor ungefähr fünfzigtausend Jahren gab es eine Einwanderungswelle nach Amalea – aus dem Osten, wo es laut Al’Jebal noch eine unentdeckte Landmasse geben soll. Vor ungefähr fünfzigtausend Jahren sollten Landbewohner, „Zweibeiner“ wie die Menschen, laut Großkönig der Fischmenschen, den schwarzen Fluss im Meer erschaffen haben, der sich wie ein Gürtel um die angeblich runde Welt schloss. Und zwar nach einem Krieg auf einem Kontinent, der, man höre und staune, im Osten lag. Diese Welt war tatsächlich gewaltig. Und dann auch wieder nicht. Denn es sah fast danach aus, als wären die Thanatanen überall gewesen.
„Endlich zurück zur Meerjungfrau“, schnaufte Irwin, als er mit den Expeditionskommandanten den Militärstützpunkt durch das Haupttor verließ. Der halbtägige Marsch durch die Wüste war erwartungsgemäß viel strapaziöser gewesen, als es einem Barden guttat. Die Hitze hatte Irwin MacOsborn den letzten Rest Muße aus dem Leib gebrannt. Er war also ganz und gar darauf angewiesen, von der Muse geküsst zu werden, und zwar buchstäblich.
Bepackt mit seinem Rucksack schlurfte Irwin träge über den Strand auf das Drachenboot zu. Siralen neben ihm war da schon von erheblich flotterer Sohle. Die Elfe flog förmlich Richtung Strand. Wahrscheinlich hatte sie Sehnsucht nach ihrem Admiral. Chara ließ sich wiederum Zeit. Und das, obwohl ihr Betthäschen ebenfalls auf dem Kommandoschiff war und sich wahrscheinlich nach ein bisschen Flok-Sex sehnte.
Oje, oje … bei dem Gedanken wurde ihm ganz anders. Seltsam eigentlich, wo er doch so überhaupt kein Angsthase war, wenn’s um’s andere Geschlecht ging. Aber die Flok? Die war schon noch mal ein anderer Brocken.
Irwin bremste sich ein und ließ sich zu Chara und Kerrim zurückfallen. Der Blutsbruder war freilich auch mit von der Partie.
„… werde mit Telos sprechen müssen. Seine Beliebtheit unter den Priestern könnte hilfreich sein.“
Vorsichtshalber nahm Irwin wieder etwas an Geschwindigkeit auf. Die zwei Assassinen mussten ihn ja nicht unbedingt gleich bemerken. Abgesehen von seinen Pflichten als Barde hatte er nämlich auch noch eine Verpflichtung dem Brigadier gegenüber. Oder auch nicht …
Ein Stich im Herzen erinnerte ihn daran, dass der Brigadier nicht länger unter den Lebenden weilte. Und der neue war weder sein Freund, noch war er ihm verpflichtet. Andererseits konnte es nicht schaden … Es war nur rechtens, dass er einen Einblick hatte. Der, der das Expeditionskommando in Sachen Ansehen und hin und wieder auch in militärischer Angelegenheit beriet, sollte auch alles wissen, was das Kommando wusste. Wie sollte er als Berater sonst effizient arbeiten?
„Du waißt aber schon, dass Laurin MacArgyll ist derjenige, der sprechet für die Priesterschaften, Chara. Telos ist mittlerwaile die Nummer Żwai.“
Ein scharfer Blick und ein anschließend breites Grinsen in seine Richtung, und Irwin zuckte zusammen. Mist, Ben Yussef hatte seine Augen und Ohren aber auch überall.
Andererseits, er hatte genug gehört. Chara hatte wieder mal Ärger mit den Priestern, insbesondere mit dem Obersten von ihnen. Wenn er sich recht erinnerte, hatte MacArgyll die Flok kürzlich sogar besucht. Genau. Als er Charas Kajüte verlassen hatte, hatte Laurin MacArgyll wirklich nicht besonders sonnig ausgesehen. Allerdings war seine Miene auch sonst immer wie eingefroren. Wahrscheinlich war er gar nicht dazu in der Lage zu lächeln. Jetzt sah die Sache allerdings anders aus. Offensichtlich hatte es einen Streit zwischen Chara und dem Monochpriester gegeben.
Der Tod stand ihr gut. So oder so ähnlich könnte ein Liedchen über die Flok und den Eispriester heißen. Die Muse war zurückgekehrt. Irwin MacOsborn wollte augenblicklich zur Laute greifen, sobald er zurück in seiner Kajüte war.
Ein paar Gedanken später hatte Irwin den Drachen bestiegen, der ihn zur Meerjungfrau bringen sollte. Er trat gerade unter die Plane des Zeltes, das an Deck des Drachenboots aufgestellt war, da fuhr es ihm kalt ins Gebein. Und das hatte nicht das Geringste mit dem Monochpriester und seinem Eisgott zu tun. Als er nämlich die Frau sah, die sich mit ihren Kriegerkameraden unter der Plane des Zeltes vor der Sonne schützte, und deren Gesicht sich zu seinem Leidwesen normalerweise unter einem Visier verborgen hielt; eine Frau, deren weibliche Emanationen sogar durch eine Plattenrüstung noch heiße Schauer durch seinen Körper jagten, wurde ihm sofort warm ums Herz. Na sowas, wo kamen denn die plötzlich wieder her?
Chara hielt inne, als sie unter das Zelt trat und ihn dort stehen sah. Im Kreise der anderen MacDragul.
Da war er also wieder, hatte auf sie gewartet. Dabei hatte sie gehofft, er hätte sich längst wieder in seine Schlafkoje verzogen.
Die Vampire … hier auf dem Drachen, der sie zum Kommandoschiff rudern sollte. Das war nicht gut.
Wieso war er ihr bis zum südlichsten Punkt der Welt gefolgt?
Chara durchquerte das Zelt, ohne Lomond eines weiteren Blicks zu würdigen. Er würde ihr über kurz oder lang sowieso wieder zu nahetreten. Von Nok und Iti begleitet – zwei der Dad Siki Na, welche die Schlacht gegen die Scorpios weitgehend unverletzt überlebt hatten – begab sie sich direkt zum Bug des Drachen.
„Wieso bist du hier?“, fragte sie leise, als sie spürte, wie er hinter sie trat.
Lomond schwieg. Chara verschränkte die Arme vor der Brust. Sie spähte auf das Wasser, das im Licht der Mittagssonne glitzerte wie tausend Kristalle. Lomond sah freilich sie an. Das Glitzern der Sonne war wahrscheinlich eine Beleidigung für seine schwarzen Augen hinter geschlossenem Visier. Überhaupt schien ihn nichts anderes zu interessieren als sie. Und dabei ging es ihm wahrscheinlich darum, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Damit sie fiel und er sie fangen konnte. Darin war er ja gut. Wirklich gut …
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