IV. Vergleich der vertraglichen und deliktischen Haftpflicht
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Seit den BGB-Reformen[80] sind zudem die vormals bestehenden Unterschiede in der Verjährung[81] vollständig und im Haftungsumfang (vormals § 847 BGB in Bezug auf das Schmerzensgeld) weitgehend beseitigt worden. Die Neuregelung des § 253 Abs. 2 BGB hat den Weg auf Schadensersatz in Form von Schmerzensgeld auch für die vertragliche Haftung eröffnet.
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Die in der Literatur gelegentlich vertretene Ansicht, die vertragliche und die deliktische Haftung seien völlig identisch ist falsch. Zwischen beiden Haftungsformen bestehen Unterschiede. Zwar gibt es regelmäßig den behaupteten Gleichlauf, er gilt aber nicht in allen Konstellationen.
1. Sorgfaltspflichten und Fehlverhalten des Arztes
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Die einen Schadensersatzanspruch begründenden Verhaltenspflichten (im Wesentlichen: Behandlungs-, Aufklärungs- und Organisationsfehler) unterliegen im vertraglichen wie im deliktischen Haftungssystem den gleichen Voraussetzungen in Bezug auf Art und Umfang. Auch die Rechtsprechung legt die vertraglich geschuldete Pflicht und die im Rahmen der deliktischen Haftung abverlangte Pflicht identisch aus.[82] Die Pflicht des Arztes zur fachlich gebotenen Sorgfalt nach aktuellem Standard, zur Aufklärung des Patienten, zur Dokumentation, zur Gewährung von Einsicht in die Krankenunterlagen gilt vertraglich wie außervertraglich und auch dann, wenn der Arzt ausnahmsweise als Geschäftsführer ohne Auftrag in Anspruch genommen wird. Dem Patienten kommt bei Diagnose und Therapie vertraglich und deliktisch der gleiche Schutz zu. Immer nimmt er Expertenautorität in Anspruch, auf die sich der ärztliche Heilauftrag gründet, der zusammen mit der Einwilligung des Kranken den medizinischen Eingriff legitimiert.[83] „ Die einem Arzt bei der Behandlung seines Patienten obliegenden vertraglichen und deliktischen Sorgfaltspflichten sind grundsätzlich identisch. ”[84] Das gilt auch für das Gebot des „ primum nil nocere ”.[85]
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Die Haftpflicht erfordert in dem dualistischen System von vertraglicher und deliktischer Haftpflicht eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung und eine dadurch verursachte Schädigung des Patienten an Körper und Gesundheit. Die Verletzung der objektiven Sorgfalt muss dabei einen subjektiven Vorwurf begründen. Liegt eine objektive Sorgfaltspflichtverletzung und eine dadurch verursachte gesundheitliche Unbill des Patienten vor, spricht das in aller Regel auch für einen zivilrechtlichen Vorwurf subjektiven Sorgfaltspflichtverstoßes – auch eine Folge des bei § 276 BGB geltenden typisierten und objektivierten Sorgfaltsmaßstabs.[86]
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Da die vertragliche Haftung des Arztes für Behandlungsfehler an die Verletzung von Verhaltenspflichten anknüpft, die in gleicher Weise und mit demselben Inhalt auf den Schutz der Gesundheit des Patienten bezogen sind wie die Pflichten, deren Verletzung zur deliktischen Arzthaftung führt, stimmen die vertraglichen und deliktischen Verhaltenspflichten völlig überein: es besteht „ Strukturgleichheit ” von vertraglichen und deliktischen Sorgfaltspflichten. Aus diesem Grund muss auch der Haftungsgrund in gleicher Weise abgegrenzt werden.[87] Dies wurde auch von der Rechtsprechung angenommen. Der BGH hat insoweit ausgeführt, dass die Sanktion des Schadensersatzes auch für die Ansprüche aus verletzten vertraglichen oder nachvertraglichen Pflichten nur für den Fall vorzusehen sei, dass es zur Verletzung eines individuellen Rechtsguts komme. Auch im Rahmen der Vertragsverletzung wegen eines Arztfehlers ist die Feststellung, dass dieser zu einer Gesundheitsbeschädigung des Patienten geführt habe, nach § 286 ZPO zu treffen, soweit es um den ersten Verletzungserfolg geht. Erst die Weiterentwicklung der Schädigung gehört zur haftungsausfüllenden, nach § 287 ZPO festzustellenden Kausalität.[88]
2. Einstehenmüssen für das Fehlverhalten von Hilfspersonen
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Die auf den ersten Blick beträchtlich erscheinende Differenz in Bezug auf das Einstehenmüssen für das Fehlverhalten von Hilfspersonen zwischen den Regelungen des § 278 BGB und § 831 BGB mit der Möglichkeit zur Exkulpation ist in der Praxis von geringem Gewicht. Die Gerichte haben die Exkulpationsmöglichkeit bei § 831 BGB durch hohe Anforderungen sehr erschwert und damit die verschiedenen Einstandspflichten für Hilfspersonen im Ergebnis einander angenähert. Die Rechtsfigur des Organisationsverschuldens schließt im Übrigen Lücken des Deliktsrechts.[89]
3. Haftungsbeschränkungen
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Im Rahmen der Gegenüberstellung der vertraglichen und der deliktischen Haftpflicht könnte sich ein wesentlicher Unterschied über die Zulässigkeit von Haftungsbeschränkungen ergeben. Grundsätzlich gilt zwar, dass eine Freizeichnung von der vertraglichen und deliktischen Haftung weder durch Formularvertrag noch durch Individualvereinbarung möglich ist. Fraglich ist andererseits, ob Ausnahmen zulässig sind. Bei der Frage der rechtlichen Zulässigkeit der völligen oder teilweisen Haftungsfreizeichnung bei der Heilbehandlung ist zwischen dem individuell vereinbarten Haftungsverzicht und der formularmäßigen Freizeichnung zu unterscheiden.[90]
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Die individuelle Haftungsfreizeichnung ist wegen Ausnutzung einer Monopolstellung gemäß § 138 BGB sittenwidrig und daher nichtig, wenn der Patient in einem Notfall auf die Hilfe des nächsterreichbaren Arztes angewiesen ist. Aber auch im Übrigen dürfte jedenfalls ein vollständiger Haftungsausschluss angesichts der Monopolstellung des Arztes auch außerhalb der Notfallbehandlung, wegen der besonderen Vertrauensgewährung und der daraus resultierenden Haftungserwartung bei gleichzeitiger zumutbarer Versicherbarkeit des Risikos auch leicht fahrlässiger Sorgfaltspflichtverletzungen durch die Berufshaftpflichtversicherung wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB unwirksam sein.[91] Auf diesem Gedanken beruht auch § 49 Abs. 1 der „ Grundsätze des anwaltlichen Standesrechts ” in der von der Bundesrechtsanwaltskammer am 25.9.1981 beschlossenen Fassung[92], wonach die Vereinbarung von Haftungsausschlüssen unzulässig sei, wenn das aus fahrlässigem Berufsversehen folgende Risiko durch die nach den Standesrichtlinien abzuschließende Haftpflichtversicherung im Rahmen der üblichen Bedingungen gedeckt werden kann. Nach diesen Grundsätzen ist auch die Haftungsbegrenzung im Behandlungsvertrag unzulässig. Auch eine teilweise Freizeichnung von der Haftung für Berufsversehen ist mit dem ärztlichen Auftrag zum Schutz von Leben und Gesundheit grundsätzlich nicht vereinbar.[93] Eine andere Beurteilung dürfte nur bei der unentgeltlichen Behandlung, soweit sie die ärztliche Berufsordnung zulässt (vgl. § 12 Abs. 2 MBO), angebracht sein. Zwar erwartet der Patient auch hier vom Arzt die normale Sorgfalt. Seine Haftungserwartung wird jedoch regelmäßig geringer sein.[94] Immerhin wird er darauf vertrauen, dass der Arzt eine Berufshaftpflichtversicherung in angemessenem Umfang unterhält, die für etwaige Behandlungsfehler eintritt.[95] Angemessen erscheint heute eine Deckungssumme für Personenschäden von 2,5 bis 5 Mio. €, für Sachschäden von mind. 150.000 € und für Vermögensschäden von mind. 50.000 €.[96] Bei Facharztgruppen mit besonders hohen Haftungsrisiken (Gynäkologie) können sich noch höhere Haftpflichtsummen empfehlen. Bei der Gratisbehandlung dürfte deshalb eine Haftungsbegrenzung für Schäden jenseits dieser Grenzen unter dem Gesichtspunkt des § 242 BGB zulässig sein. Ferner wird man eine Haftungsbeschränkung dort für zulässig erachten dürfen, wo die Therapie von besonderen subjektiven Fähigkeiten des Arztes abhängt.[97]
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Zustimmung verdient die Ansicht, dass die vorstehenden Grundsätze nicht für Eingriffe ohne medizinische Indikation gelten, soweit es sich um nicht grob fahrlässig verursachte Schäden außerhalb der Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit, insbesondere um bloße Vermögensinteressen handelt[98]. Hier erscheint ein vertraglicher Ausschluss oder eine vertragliche Begrenzung des Haftungsrisikos generell möglich.[99] Unter diesem Gesichtspunkt soll auch ein Haftungsverzicht zulässig sein, der von einem Patienten ausgeht, der über Expertenwissen verfügt und auf einen nichtindizierten, diagnostisch nicht abgesicherten Eingriff besteht.[100]
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