Wenn Soames ihn im Klub sah, würde sie sicher erfahren, daß er gar nicht beim Zahnarzt gewesen war. Er kannte keine einzige Familie, in der alles immer so ›herum kam‹. Mit einem mürrischen Blick in dem olivenfarbenen Gesicht, die Beine in den karierten Hosen gekreuzt, mit Lackschuhen, die in der Dämmerung blinkten, saß er ungemütlich zwischen den grünen Billardtischen, kaute an seinem Zeigefinger und überlegte, wo zum Teufel er das Geld hernehmen sollte, wenn Erotic den Lancaster Cup nicht gewann.
Seine Gedanken wandten sich mißmutig den Forsytes zu. Was das für eine Gesellschaft war! Nichts war aus ihnen herauszubekommen, wenigstens machte es die größten Schwierigkeiten. Sie waren so verd–t genau in Geldangelegenheiten; nicht ein Sportsmann in der ganzen Sippe, wenn nicht George gewesen wäre. Dieser Soames zum Beispiel, bekäme einen Ohnmachtsanfall, wenn man einen Zehner von ihm borgen wollte, oder wenn nicht das, so sähe er einen mit dem verwünschten überlegenen Lächeln an, als wäre man eine verlorene Seele, weil man Geld brauchte.
Und seine Frau (Dartie wässerte unwillkürlich der Mund), mit der er versucht hatte auf gutem Fuß zu stehen, wie man es mit einer hübschen Schwägerin natürlich gern wollte, ob diese – (er gebrauchte wirklich ein grobes Wort) – wohl einen Blick für ihn hatte – sie sah ihn ja an, als wäre er Auswurf – und doch konnte sie es weit genug treiben, darauf wollte er eine Wette eingehen. Er kannte die Frauen; sie waren nicht umsonst mit so sanften Augen und solchen Figuren geschaffen, dahinter würde dieser Soames wohl bald genug kommen, wenn irgend etwas daran war, was er über den guten ›Bukanier‹ gehört hatte.
Dartie erhob sich von seinem Stuhl, machte einen Gang durchs Zimmer, und hielt vor dem Spiegel über dem Kaminsims an, wo er lange in Betrachtung seines Gesichts versunken stehen blieb. Mit dem gewichsten dunklen Schnurrbart und dem kleinen vornehmen Ansatz von Backenbart hatte es das für manche Gesichter eigentümliche Aussehen, als wäre es in Leinöl getaucht; und beunruhigt fühlte er das Entstehen eines Pickels an der Seite der leicht gebogenen fettigen Nase.
Inzwischen hatte der alte Jolyon den übrig gebliebenen Stuhl in Timothys behaglichem Wohnzimmer entdeckt. Seine Ankunft hatte die Unterhaltung offenbar unterbrochen, und es war ein verlegenes Schweigen eingetreten. In ihrer wohlbekannten Gutherzigkeit beeilte sich Tante Juley die Gemütlichkeit wiederherzustellen.
»Ja, Jolyon,« begann sie, »wir sprachen eben davon, daß du lange Zeit nicht hier gewesen bist; aber es darf uns nicht überraschen. Du bist natürlich sehr beschäftigt? James sagte gerade, wie viel es jetzt zu tun gibt –«
»Sagte er das?« erwiderte der alte Jolyon und blickte James fest an. »Es gäbe nicht halb so viel zu tun, wenn jeder sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte.«
James, der nachdenklich in einem kleinen Sessel saß, von dem seine Kniee in die Höhe ragten, schob unruhig die Füße vor und trat dabei mit dem einen auf die Katze, die unbesonnen vor dem alten Jolyon neben ihm Zuflucht gesucht hatte.
»Ihr habt ja hier eine Katze,« sagte er gekränkt und zog den Fuß ungeduldig zurück, als er ihn auf dem weichen pelzigen Körper fühlte.
»Mehrere,« sagte der alte Jolyon und blickte von einem zum andern. »Ich trat eben auf eine.«
Es schwiegen alle.
Dann fragte Mrs. Small, indem sie die Finger in einander flocht und mit feierlicher Ruhe um sich blickte: »Und wie geht's der lieben June?«
Ein leiser Humor blitzte in den ernsten Augen des alten Jolyon auf. Eine merkwürdige alte Frau, diese Juley! Sie ist einzig darin, immer das Verkehrte zu sagen!
»Schlecht!« sagte er; »London bekommt ihr nicht – zu viele Leute, viel zu viel Geschwätz und Geklatsche überall.« Er legte Nachdruck auf die Worte und sah wieder James gerade ins Gesicht.
Niemand sprach.
Sie hatten alle ein Gefühl, daß es zu gefährlich sei, nach irgend einer Richtung hin einen Schritt zu unternehmen oder eine Bemerkung zu wagen. Etwas von der Vorahnung des drohenden Verhängnisses, wie sie den Zuschauer einer griechischen Tragödie überkommt, hatte sich diesem reichmöblierten Zimmer mit den weißhaarigen alten Männern in Schoßröcken und vornehm gekleideten Frauen mitgeteilt, die alle von dem selben Blut waren, unter all denen eine ungreifbare Ähnlichkeit bestand.
Nicht daß sie sich dessen bewußt gewesen wären, denn die Anwesenheit so verhängnisvoller böser Geister kann nur empfunden werden.
Jetzt erhob Swithin sich. Er wollte hier nicht sitzen mit diesem Gefühl – er ließ sich von keinem einschüchtern! Noch würdevoller als sonst manövrierte er durchs Zimmer und schüttelte jedem einzeln die Hand.
»Bestelle Timothy von mir,« sagte er, »daß er sich zu sehr verweichlicht!« Dann wandte er sich zu Francis, die er ›fesch‹ fand, und fügte hinzu: »Du mußt an einem dieser Tage eine Spazierfahrt mit mir machen.« Aber das beschwor die Vision jener andern denkwürdigen Fahrt herauf, über die so viel gesprochen worden war, und er stand einen Augenblick ganz still, mit glasigen Augen, wie in Erwartung auch die Bedeutung dessen zu erhaschen, was er selbst darüber gesagt; doch plötzlich überlegte er, daß ihm all das ganz einerlei sei und sagte zum alten Jolyon: »Na, adieu, Jolyon! Du solltest nicht ohne Überzieher herumgehen, du wirst dir noch Ischias oder sonst was holen!« Dann gab er der Katze mit der Spitze seiner Lackstiefel einen leisen Stoß, und seine ungeheure Gestalt entfernte sich.
Als er gegangen war, blickte einer verstohlen den andern an um zu sehen, wie er das Wort ›Spazierfahrt‹ aufgenommen hatte, dieses Wort, das als einzige – so zu sagen offizielle – Nachricht in Bezug auf das vage dunkle Gerücht, das die Zungen der Familie in Bewegung setzte, jetzt berüchtigt war und eine überwältigende Bedeutung bekommen hatte.
Einem Impuls gehorchend, sagte Euphemia mit kurzem Lachen: »Ich bin froh, daß Onkel Swithin mich nicht zu Spazierfahrten auffordert.«
Um wieder einzulenken und über kleine Verlegenheiten hinwegzuhelfen, die dieser Gegenstand vielleicht herbeiführen könnte, erwiderte Mrs. Small: »Er nimmt jeden gern mit, meine Liebe, der gut angezogen ist und mit dem er ein wenig Ehre einlegen kann. Ich werde nie die Fahrt vergessen, zu der er mich mitnahm. Das war ein Erlebnis!« Und über ihr pausbäckig rundes Gesicht breitete sich für einen Augenblick eine seltene Zufriedenheit, doch gleich ließ sie wieder den Kopf hängen und Tränen traten ihr in die Augen. Sie gedachte einer langen Spazierfahrt, die sie einst mit Septimus Small unternommen.
James, der in seinem kleinen Sessel wieder in unruhiges Grübeln versunken war, erwachte plötzlich daraus: »Ein komischer Kerl, dieser Swithin,« sagte er, aber es kam ihm nicht ganz aus dem Herzen.
Das Schweigen des alten Jolyon und sein strenger Blick hielt sie alle in einer Art von Lähmung. Die Wirkung seiner Worte hatte ihn selbst betroffen gemacht, sie schien die Bedeutung des Gerüchts, das er hatte unterdrücken wollen, noch zu verstärken; aber er war immer noch ärgerlich.
Er war noch nicht fertig mit ihnen – Nein, nein – sie sollten noch etwas zu hören bekommen!
Seine Nichten wollte er nicht schelten, er hatte ja keinen Streit mit ihnen – ein junges, präsentables weibliches Wesen war der Huld des alten Jolyon immer sicher – aber dieser James, und in geringerem Maße vielleicht all die andern verdienten, was ihnen zugedacht war. Auch er fragte nach Timothy.
Wie in dem Gefühl, daß ihrem jüngeren Bruder eine Gefahr drohe, bot Tante Juley ihm plötzlich Tee an: »Er ist ganz kalt und schlecht geworden,« sagte sie, »da er hinten im Wohnzimmer so lange steht und auf dich wartet, aber das Mädchen wird gleich frischen für dich machen.«
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