Gelassenheit
Sich der Einsamkeit aussetzen
Zulassen, getroffen zu werden
Konflikte annehmen
Dankbar sein für den Segen, der in schmerzhaften Wachstumsprozessen liegt
Ich häufe keine Reserven für die Zukunft an.
Es gibt ja die göttliche Vorsehung.
Machen wir ihr Ehre,
indem wir sparsam leben
und den anderen Gutes tun.
Johannes XXIII .
Heute leben bedeutet, mit klarem Verstand
denken und zielgerichtet handeln.
Es bedeutet nicht, sich von momentanen
Bedürfnissen treiben zu lassen
und ohne Bewusstheit durch den Tag zu stolpern.
Ich versuche, mir diese Erkenntnis
am Morgen vor Augen zu stellen
und sie in den alltäglichen Dingen umzusetzen –
z. B. beim Einkauf (ich weiß, was ich will),
bei der Arbeit (ich weiß, was ich kann),
bei meinen Gesprächen (ich weiß, worum es geht).
Heute leben bedeutet,
sorgfältig meine Talente einzusetzen
und verantwortlich mit meinen Kräften umzugehen.
Es bedeutet nicht, so zu arbeiten,
als müsste am Ende des Tages alles geregelt sein.
Ich wehre der Versuchung, mich zu überfordern.
Dabei hilft es mir, während des Tages
immer wieder einmal kurz anzuhalten,
um zu sehen, wo ich bin,
und zu unterscheiden,
was ich zu tun habe und was nicht.
Heute leben bedeutet, diesen Tag
mit anderen zu leben.
Das entlastet mich, weil ich nicht allein
an meinem Leben tragen muss.
Ich darf mich tragen lassen,
wo ich nicht mehr weiterkann.
Heute leben bedeutet auch,
am Leben anderer mitzutragen.
Ich stelle mir im Gebet das Netz vor,
in das ich eingebettet bin.
Ich werde mir dankbar bewusst,
dass ich mich in dieses Netz fallen lassen darf.
Ich spüre auch die Verantwortung, selbst am
Netzwerk des gemeinsamen Lebens zu knüpfen.
Ich nehme Maß an der Person und am Leben Jesu.
Er lebte ganz im Jetzt,
seine Lebensaufgabe verstand er als Hingabe
an Gott und die Menschen.
Das Heute in Hingabe zu leben –
das motiviert mich, über mich hinauszuwachsen,
das fordert aber auch meine ganze Konzentration
und Kraft.
In der Meditation lasse ich mich auf Jesus ein
und bitte ihn im Gebet, mir den Geist der Hingabe
zu schenken.
Zweites Gebot der Gelassenheit
Heute, nur heute werde ich auf ein zurückhaltendes Auftreten achten: Ich werde niemanden kritisieren, ich werde nicht danach streben, die anderen zu korrigieren oder zu verbessern – nur mich selbst.
Zurückhaltung ist keine der modernen Tugenden. Wer bescheiden ist, anderen den Vortritt lässt und schweigt, gilt sogar als unterwürfig, ängstlich, feige. Und das aus gutem Grund. Unsere Geschichte lehrt uns, dass Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit allzu oft von staatlichen und kirchlichen Obrigkeiten missbraucht worden sind. Und damit machen sich jene, die zurückhaltend auftreten oder zur Zurückhaltung mahnen, unter Umständen mitschuldig an Gewalt und Unterdrückung.
Eine moderne Ethik zielt eher in die Gegenrichtung: Gelobt wird der mündige Bürger und Christ, der sicher auftritt, seine Rechte einfordert, Andersdenkende konfrontiert und zielorientiert handelt.
Auf den ersten Blick klingt dieses Gebot der Gelassenheit, das Angelo Roncalli vor mehr als einem halben Jahrhundert aufgestellt hat, für uns Heutige veraltet und verstaubt. – Ob es nicht gerade deswegen wieder in Erinnerung gerufen werden muss? Braucht unser Streben nach einem selbstbestimmten Leben eine Korrektur? Gerät es zu sehr auf die Spur des Individualismus und der privaten Beliebigkeit?
Was versteht Johannes XXIII. unter Zurückhaltung? Musste er selbst um die richtige Balance ringen? War der bodenständige Bauernsohn von Natur aus ein Mensch der allzu schnellen Urteile und der allzu festen Grundsätze? Einige Seiten seiner Persönlichkeit und einige Kapitel seiner Biographie sprechen für diese Annahme. Dann hätte er mit seinem Gebot eine Warntafel aufgestellt, damit sein und unser Denken nicht auf die Holzwege der Selbstgerechtigkeit und Arroganz gerät und unser Reden nicht auf der breiten Straße populistischer Parolen landet.
Vielleicht können wir in diesem Sinn das Wort „Zurückhaltung“ ins Heute übertragen: Es ist unsere Aufgabe, eine kritische Distanz zu allen Mainstream-Philosophien zu wahren. Es ist unsere Aufgabe, uns selbst genauso in Frage zu stellen wie andere. Es ist unsere Aufgabe, wahrzunehmen, dass die Fehler, die wir bei anderen sehen, ein Spiegelbild unserer eigenen Schwächen sind. Es ist unsere Aufgabe, uns selbstkritisch der Warnung zu erinnern, die Jesus ausgesprochen hat: „Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?“ (Mt 7, 4)
Jesus, Gott der Menschlichkeit
Lass mich
– nur heute –
im Splitter in den Augen der anderen
den Balken in meinen erkennen
Ihre Splitter und mein Balken –
beide
aus DEMSELBEN Holz –
fein gemasert
jedes anders
und fehlerhaft –
aus DEMSELBEN Holz
das allein uns erst menschlich macht
Lass mich
– nur heute –
meinen Balken liebevoll
berühren
mit Humor und Dankbarkeit
tragen
genau so
wie Du
unsere Fehler liebevoll berührst
und trägst
wie Du das Kreuz
– aus DEMSELBEN Holz –
getragen hast.
Ricarda Moufang
Mose
Er schaute hin: Da brannte der Dornbusch und verbrannte doch nicht. Mose sagte: Ich will dorthin gehen und mir die außergewöhnliche Erscheinung ansehen. Warum verbrennt denn der Dornbusch nicht? Als der Herr sah, dass Mose näher kam, um sich das anzusehen, rief Gott ihm aus dem Dornbusch zu: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. Der Herr sagte: Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden (Ex 3, 2b–5).
Der Dornbusch steht in dieser Geschichte für alles Starre und Verdorrte, für alles Zerstörerische und Verletzende im Menschen und in der Welt. Wenn Mose sich dem Dornbusch nähert, dann nähert er sich seinem inneren Bild. Der Dornbusch ist Spiegel seines Lebensgefühls, ausgetrocknet und unbrauchbar und von Gott verlassen zu sein.
Tief in unserem Inneren lebt die Sehnsucht nach gelungenen Beziehungen, nach Freundschaft und Liebe. Aber diese Sehnsucht ist oft verletzt und enttäuscht. Wir haben den Eindruck, vieles im Leben ist unerfüllt, wenn nicht gar unerfüllbar. Und doch lässt uns die Frage nicht los: Warum brennt dieses Feuer in meinem Herzen?
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