Verhüllung
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:
Gerhard E. Schmid
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat: Rachel Camina, Hier und Jetzt Gestaltung: Simone Farner, Naima Schalcher,
Zürich
Satz und Bildbearbeitung: Benjamin Roffler,
Hier und Jetzt
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-530-5
ISBN E-Book 978-3-03919-976-1
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
«Wenn man mit ihnen gesprochen hat,
merken die meisten Leute: Da drunter [unter dem Nikab]
ist einfach ein ganz normaler Mensch,
dann fällt dieser Schleier des Befremdens.»
Aus dem Gespräch mit einer Nikab-Trägerin
Einleitung
Kurze Geschichte des Gesichtsschleiers
Bedeckung in antiken Kulturen
Christliche Aneignung
Islamische Aneignung
Verengung in der Moderne
Forschungsstand
Munaqqabāt in Westeuropa
Europäische Debatten zur Vollverhüllung
Forschung zur Schweiz
Die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz
Wie viele Nikab-Trägerinnen gibt es in der Schweiz?
Stimmen von Nikab-Trägerinnen
Auskünfte einer munaqqaba
Haltungen zur Vollverhüllung und zur Volksinitiative
Die politische Debatte um ein Verhüllungsverbot in der Schweiz
Der Vorbote: Die Interpellation Darbellay 2006
Die erste Kampagne: Die Minarettverbots-Initiative
Parlamentarische Vorstösse
Gescheiterte Versuche und partielle Verbote
Volksabstimmung zum Ersten: Tessin
Volksabstimmung zum Zweiten: Glarus
Volksabstimmung zum Dritten: St. Gallen
Die eidgenössische Volksinitiative
Zwischenbilanz
Der Mediendiskurs um Vollverhüllung
Untersuchungsgegenstand
Materialgrundlage
Strukturanalyse
Feinanalyse typischer Diskursfragmente
Übergreifende Analyse
Die jüngsten Entwicklungen
Fazit und Ausblick
Anhang
Die Schweiz – und die übrige Welt – staunte nicht schlecht, als am Nachmittag des 29. November 2009 feststand: Die Schweizer Verfassung wird in Artikel 72 um ein Verbot ergänzt, Minarette zu bauen. Eine Mehrheit von 57,5 Prozent der Stimmenden hatte es so gewollt, entgegen der Empfehlung von Bundesrat, Parlament und einer breiten Front von Parteien, Verbänden, Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Vorausgegangen waren allerdings bereits dreissig Jahre, in denen westliche Öffentlichkeiten mit wechselnder Staffage über «den Islam» debattierten. Markante Punkte in dieser Geschichte waren die Islamische Revolution in Iran 1978/79, die Proteste muslimischer Akteure gegen den Roman «Die satanischen Verse» des britischen Schriftstellers Salman Rushdie 1989, die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA sowie 2004 in Madrid und 2005 in London, und 2006 die Kontroverse um die in Dänemark publizierten Karikaturen über den Propheten Muhammad. Das Schweizer Minarettverbot ist Teil dieser Reihe und keineswegs ihr Schlusspunkt. Zahlreiche Aspekte dieser Abfolge von Debatten mit Bezug zum Islam waren schon Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. 1
Auch das Kopftuch muslimischer Schülerinnen in staatlichen Schulen sorgte für Diskussionen, die in Frankreich 2004 zu einem Verbot und andernorts zu Gerichtsentscheiden führten. Im Anschluss daran diskutierte die Öffentlichkeit in mehreren europäischen Ländern, ob muslimischen Frauen das Tragen des Gesichtsschleiers verboten werden soll.
Da auch in der Schweiz politische Akteure schon bald nach der Minarettabstimmung immer wieder die Idee eines «Burka-Verbots» ins Spiel brachten, kündigte sich ein weiterer Akt der nationalen «Islam-Debatte» an. Dieser versprach wissenschaftlich ebenso interessant zu werden wie die Minarettdebatte: Was würde gleich, was anders ablaufen? Welche Kontextfaktoren hatten sich seit damals verändert? Wie würden sie sich diesmal auf die Debatte und das Ergebnis einer Volksabstimmung auswirken? Vor allem aber: Warum hatte «die Schweiz» mit dem Minarettverbot nicht genug?
Fragen dieser Art standen am Beginn einer Lehrveranstaltung im Frühjahrssemester 2020. Damals stand bereits fest, dass spätestens 2021 über die eidgenössische Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» abgestimmt werden würde. Medien und Politik hatten das Thema seit 2009 immer wieder öffentlich diskutiert, nicht zuletzt anlässlich von Volksabstimmungen in drei Kantonen. Genügend Stoff für Untersuchungen war also vorhanden. Zugleich bestand die Möglichkeit, Ergebnisse dieser Untersuchungen an ein interessiertes Publikum zurückzuspielen.
Fragen zur Verhüllungsdebatte lassen sich von verschiedener Seite her angehen. Unternommen hat dies bisher vor allem die Politikwissenschaft (siehe Kapitel «Forschungsstand»). Denkbar ist auch ein Zugang aus der Sozialpsychologie oder aus der Linguistik. Unsere Studie geht von der Religions- und der Islamwissenschaft aus. Diese Disziplinen befassen sich nicht nur damit, wie Menschen eigene religiöse Vorstellungen artikulieren und leben, sondern auch, wie Religion von Dritten oder in der Öffentlichkeit verhandelt wird.
Wir beschränkten uns auf zwei Themenbereiche: Zum einen wollten wir genauer wissen, wie viele Musliminnen in der Schweiz den Gesichtsschleier tragen und was sie dazu bewegt. Den grösseren Teil der Zeit widmeten wir danach der Analyse des Diskurses zur Vollverhüllung. Wir – das sind fünf Studentinnen der Religionswissenschaft und des Studiengangs Gesellschaft und Kommunikation sowie der Dozent.
Bei einem emotional und politisch so kontroversen Thema wie im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, wie die Verfasserinnen und der Verfasser selbst zu einem Verhüllungsverbot stehen. Wir haben diese Frage diskutiert. Es zeigte sich, dass wir unterschiedliche Argumente für besonders gewichtig oder gar ausschlaggebend halten. Unter dem Strich stehen wir dem vorgeschlagenen Verbot eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dies ist eine Frage der persönlichen Bewertung, die aber im Hintergrund bleiben muss. Wir wollen darlegen, was wir mit welchem Ergebnis untersucht haben. Das Vorgehen und die Ergebnisse sollen – soweit es der Quellenschutz zulässt – nachvollziehbar und die Interpretation der Befunde plausibel sein.
Hier die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz, dort die «Burka-Debatte»: Es gäbe gute Gründe, jedem Thema eine eigene Publikation zu widmen. Denn jedes der beiden Phänomene kennt seine eigenen Akteure und Dynamiken. Doch die Berührungspunkte rechtfertigen es aus unserer Sicht, beides in derselben Publikation zu behandeln: Vereinzelt fragt eine Stimme in der «Burka-Debatte» nach den Motiven und der Meinung einer Frau mit Gesichtsschleier. Umgekehrt haben die «Burka-Debatte» und ein allfälliges Ja zum Verhüllungsverbot in der Volksabstimmung sehr konkrete Auswirkungen auf Frauen, die den Gesichtsschleier tragen.
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