Alle Sinne sind beteiligt, auch der – von den Menschen zumeist unterbewertete – GeruchssinnGeruchssinn, der sich ebenfalls schon im Mutterleib ausgeformt hat. Babys bevorzugen schon nach wenigen Tagen den Lappen, den die Mutter nach dem Stillen an ihre Brust legt, gegenüber anderen Stilleinlagen. Umgekehrt konnten auch Eltern das Hemdchen ihres Babys durch Riechen wiedererkennen. Und wenn die Mutter mit ihrem Säugling während der ersten halben Stunde seines Lebens zusammen war, konnte sie ihn sechs Stunden später am Geruch identifizieren.2 In den siebziger Jahren haben amerikanische Ärzte das Verhalten von Müttern untersucht, die mit ihrem Baby ausgiebigen Erstkontakt hatten, und sie mit solchen Müttern verglichen, die ihr Baby nur kurz sehen durften, wie es der damaligen Routine auf manchen Entbindungsstationen entsprach. Diese Studien gaben den entscheidenden Anstoß zu einer neuen Praxis der Geburtskliniken, dem Rooming-in , das gewiß den natürlichen Bedürfnissen von Mutter und Kind besser entspricht. Das gleiche gilt für das Stillen. Gestillte Säuglinge nehmen den vertrauten Muttergeruch ungleich stärker wahr als Flaschenkinder.
Allerdings sind allein an eine Stunde gelungenen Kontakts direkt nach der Geburt keine Langzeiteffekte zu knüpfen. Menschliches Leben ist zu sehr auf Lernen und stetiges Erfahren angelegt, als daß ein punktuelles Ereignis für immer Weichen zu stellen vermag. Wir dürfen also nicht dramatisieren. Das Menschenbaby wird nicht wie das Lorenzsche Gössel bei der Geburt reflexhaft ein für allemal auf seine leibliche Mutter geprägt. Wiewohl immer deutlicher wird, daß die leibliche Mutter schon aufgrund der vorgeburtlichen Beziehung die besten Voraussetzungen für eine enge Bindung mitbringt, ist diese mit der Geburt nicht automatisch gegeben. Sie muß erst erarbeitet werden. Damit besteht auch die Chance, daß andere Personen einspringen können. Allerdings wird zwischen dem 7. bis 12. Monat die Beziehung zu den wenigen, ausgesuchten Bezugspersonen so eng, daß sie ganz individuell wird und nicht mehr ohne Belastungen auswechselbar ist.
Nunmehr bestätigt uns auch die Neurobiologie, allerdings bisher nur im Tierexperiment, daß mütterliche Wärme sich auch langfristig auf den Seelenhaushalt des Kindes auswirken kann . Umsorgte Rattenkinder erwiesen sich als viel resistenter gegen Streß als vernachlässigte Altersgenossen, und mehr noch: die von der Mutter erworbene StreßresistenzStreßresistenz – deren molekularen Grundlagen man auf der Spur ist – schlug sich später auch im Verhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs nieder. Die Nachhaltigkeit früher Erfahrungen wird durch Veränderungen am Baby-Erbgut erklärt.3
Mutterliebe könnte also weit ins Leben hineinreichen, aber selbst der frühe Tod der Eltern hat nicht zwangsläufig einen durchschlagenden Effekt auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung. Kinder können selbst solche Katastrophen letztlich unbeschadet überstehen und in eine liebevolle Adoptivfamilie hineinwachsen. Die beliebte Gleichung: Unglückliche Kindheit = verpfuschtes Leben stimmt so nicht. Auch nicht die umgekehrte Gleichung: glückliche Kinder = emotional stabile Erwachsene. Es ist alles viel komplizierter – und wäre auch aus evolutionärer Sicht wenig sinnvoll, wenn frühe Erfahrungen, negative wie positive, den Menschen lebenslang festlegen würden. Eine Langzeitstudie ergab, daß sich ein Drittel von den rund 200 als Hochrisikokinder Eingestuften später in der Tat negativ entwickelten, straffällig wurden usw. Ein weiteres Drittel konnte zwischen 20 und 35 Jahren wieder Tritt fassen. Das restliche Drittel nahm offensichtlich keinerlei Schaden. Die Forscher tippen auf Veranlagung, denn schon als Kleinkinder wurden sie als freundlich-gutmütig beurteilt. Außerdem gelang es ihnen, eine vertrauensvolle Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson außerhalb ihres problematischen Umfelds (Nachbarin, Lehrer, Großvater, Tante…) aufzubauen und sie konnten schon früh Verantwortung für sich und andere übernehmen. Für sie war die Schule eher ein Zufluchtsort. Der Fachausdruck für solche Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit ist ResilienzResilienz.4
Am Anfang des Lebens steht die sympathische BindungBindung, personale B. zwischen Mutter und Kind, die Quelle jener Liebesfähigkeit, die beim Menschen ein ganzes Leben sprudeln kann. Je mehr von dieser mitgegebenen Sympathie wirksam werden kann, umso besser können sich Baby und Betreuungspersonen zusammenfinden. Mit ihnen akzeptiert der Säugling auch ihre Sprache, ja sogar mehr als eine Sprache, wenn Vater und Mutter verschiedene Sprachen sprechen.
Spracherwerb als Gemeinschaftsarbeit
Du, ich, wir und die anderen
Das Kind wächst in das Verstehen der Sprachgemeinschaft hinein und beginnt sich darin selbst zu verstehen.
(Friedrich Georg JüngerJünger, Friedrich Georg)
Sprache im Gesamt der Entwicklung
Die vorgeburtlichen Errungenschaften, so erstaunlich sie sein mögen, aber auch die Fortschritte im ersten Jahr sind noch Vorarbeit. Denn Sprache setzt erst einmal Erfahrung von Welt voraus, bevor sie schließlich zum mächtigsten Mittel wird, diese Welt zu begreifen.
Der Mutterspracherwerb ist auf vielfältigste Weise in die Gesamtentwicklung eingebunden. Das ist die »biologische Verklammerung« (PlessnerPlessner, Helmuth) von Körper, Seele und Geist, die zusammen die eine Wirklichkeit des Menschen ausmachen. Deshalb gilt es zunächst, dieses Gesamt zu erkunden, in dem Sprache erworben wird.
Sprache ist anfangs noch von der körperlichen Entwicklung abhängig. Die Anatomie des Stimmtrakts muß sich noch verändern, damit das Baby saubere Sprachtöne hervorbringen kann. Die Sinne – die Tore zur Welt und zu sich selbst – müssen sich weiterentwickeln. So braucht der Sehsinn noch drei bis fünf Wochen der Reifung und des Lernens, bis das Baby das Gesicht seiner Mutter von anderen Gesichtern unterscheiden kann. Und es dauert ungefähr ein Jahr, bis es unser Mienenspiel richtig deuten kann.
Spracherwerb ist aufs engste mit der geistigen Entwicklung verflochten. Es muß die Dinge greifen, bevor es sie begreifen und benennen kann; es muss sie fassen, bevor es sie erfassen kann. Wenn es sie sprachlich miteinander vergleicht (»so groß«, »größer«, »kleiner«), muß es sie vorher mit Blicken vermessen und verglichen haben.
Sprache entsteht zwischen den Menschen. Sie ist von Anfang an Zwiesprache, eingebettet in Fühlen und Kommunizieren, die schon vorher da sind. Unsere Lautsprache baut auf vorsprachlicher gestisch-mimischer Verständigung auf. Wir sehen, wie tief der sprachbegabte Mensch im Tierreich verwurzelt ist. Denn Kommunikation ist uraltes Naturerbe. Sprache wirkt mit bei der Entwicklung des Kindes zum sozialen Wesen und der Herausbildung seiner Gemeinschaftsgefühle. Bevor das Kind sinnvoll »ich« und »mein« sagen kann, muß es sich als ein Ich verstehen.
Gefühle sind in alle Wahrnehmungs- und Entscheidungsvorgänge tief verwoben. Um mit seinen Gefühlen bewußt umgehen zu können, muß man sie für sich und andere versprachlichen können.
Das ist ja das Traurigste an den sog. wilden Kindern, den Wald- und Wolfskindern ebenso wie den Käfigkindern, die ohne menschliche Sprachkontakte groß wurden: Sie zeigten sich als emotional tief verstörte Wesen, die den Blicken der Menschen auswichen, dabei kein Schamgefühl besaßen, vielfach nicht weinen und mit anderen teilen konnten. Wenn überhaupt, gelang es nur mit unendlich viel Liebe und Geduld, tragfähige Bindungen zu ihnen herzustellen (vgl. S. 357ff.).
Schauen wir uns dagegen eine Dreijährige an, die in einen Kindergarten kommt, in dem man eine fremde Sprache spricht. Sie läßt sich von Freude und Trauer anderer anstecken und versucht schon, andere zu trösten: Mädchen sind besser im Trösten als Jungen. Sie kann andere versöhnlich anlächeln und reagiert, wenn sie so angelächelt wird. Sie ist schon auf vielfache Weise weltklug, so daß das Erlernen der ZweitspracheZweitsprache, Zweisprachigkeit zu einem beträchtlichen Teil reine Lautierarbeit, Vokabel- und Grammatikarbeit ist: Wie drückt man das, was ich jetzt sagen möchte, auf die neue, fremde Art aus: »Ich hab’ heute Geburtstag?«
Читать дальше