Das Baby hat Spaß daran, seinen Bewegungsapparat auszuprobieren und sich selbst zuzuhören. Es animiert sich selbst. Der Psychologe und Sprachtheoretiker Karl BühlerBühler, Karl (seine Frau Charlotte wurde nach der gemeinsamen Auswanderung in die USA Begründerin der »humanistischen Psychologie«) prägte hierfür den Ausdruck Funktionslust Funktionslust.2 Arbeit und Üben, Spiel und Spaß sind eins. Das gilt fürs Gehenlernen ebenso wie fürs Sprechenlernen. Dabei gehen das Strampeln, Kriechen und Krabbeln dem Gehenlernen voraus wie die Spuckebläschen den regulären Sprachsilben. Diese Vitalität des Kleinkindes, seine Sinnes- und Muskelfröhlichkeit, ist vielleicht die schönste Mitgift der Natur. Sie macht nach HerderHerder, Johann Gottfried den Menschen zum »Lehrling aller Sinne«, zum »Lehrling der ganzen Welt«3. Wo sie fehlt, sind die Aussichten trüb, und der Spracherwerb entpuppt sich als äußerst mühseliges, langwieriges und schwieriges Geschäft, das von geschulten Therapeuten angekurbelt werden muß.
Das gesunde Baby übt oder spielt mit seiner Stimme nicht nur im Dialog, zu dem es die Eltern ermuntern, sondern auch im Monolog, vor allem in entspannten Perioden kurz vor dem Einschlafen und nach dem Aufwachen, wenn es sich wohl fühlt. Hier nimmt stimmliches Lernen einen breiten Raum ein. In diesen Perioden wird die StimmeStimme zum liebsten Spielzeug des Kindes.4 Allmählich wird sie ihm immer besser verfügbar: Sie wird melodischer, einzelne Laute erhalten festere Konturen, die Geräuschbeimengungen nehmen ab. Dieses Spiel mit der Stimme erreicht einen ersten Höhepunkt gegen Ende des ersten Halbjahres, wird jedoch noch weit in das zweite Lebensjahr hinein fortgesetzt. Wir werden diesen Einschlaf- und Aufwachmonologen später wieder begegnen, wenn das Kleinkind nicht mehr mit seiner Stimme, sondern mit Sätzen jongliert.
Mit dem Lallen baut das Kind sein Sprechvermögen auf eine Weise aus, die es befriedigt und genießt. Eltern unterstützen es dabei. Denn wir sprechen ihm in diesem Zeitraum außerordentlich deutlich und sorgfältig zu und grenzen die Laute klar voneinander ab. Zwischen dem zweiten und fünften Monat sind es besonders die Vokale, die aus dem Sprachfluß hervorgehoben und den Kindern geradezu vorgekaut werden. Sie werden in ihrem Eigenklang übertrieben lang gezogen und prägnant dem Baby zugesprochen: Ach, was bist du süüüß! Siehst du das Vöööglein da? Nicht ohne Effekt; etwa eine Terz höher tauchen dann die gleichen Vokale ab dem 5. Monat vermehrt im Babbeln der Kinder wieder auf.5
Ein deutlicher Schritt in Richtung Sprache ist getan, wenn das Baby zwischendurch echte Sprachsilben formt. Dieselbe Silbe wird mehrfach wiederholt, denn der Säugling freut sich, sie wiederzuerkennen und zielgenau zu produzieren. Diese Silbenketten bestimmen immer mehr seine Einschlaf- und Aufwachmonologe. Ein Verschlußlaut wird mit einem Vokal gepaart, z.B.:
bababababababa
mamamamamama
dädädädädädädä
Zugleich oder etwas später treten aber auch Silbenkombinationen auf:
mamemame
däläjäjäjä
und manchmal etwas, das man als Jargon bezeichnet hat: ein sprachähnlicher Singsang aus verwaschenen Silbenkombinationen, die aber schon muttersprachen-typische satzähnliche Rhythmen und Melodien aufweisen. Astor presst eine Tonbandkassette ans Ohr und »spricht« in sein Telefon, im Tonfall der Muttersprache, aber in völlig unverständlichem Kauderwelsch. Kinder brabbeln vor sich hin, nehmen aber auch auf diese Weise regelrecht an Gesprächen teil, wie die mundfreudige Tabea, die noch kein Jahr alt ist und ihr erstes Wort noch nicht gesprochen hat. Als sie bei Tisch dabei sitzt, wirkt das Gespräch der Erwachsenen so ansteckend auf sie, daß sie sich plötzlich einmischt und etwas daher sabbelt, was wie Sprache klingt, aber keine ist. Solches KauderwelschKauderwelsch produzieren sie auch noch später, im Stadium der Mehrwortsätze, mitunter mit richtigen Wörtern vermischt, etwa wenn sie so tun, als läsen sie vor. Der eineinhalbjährige Axel Preyer holt sich eine Zeitung aus dem Papierkorb, breitet sie auf dem Boden aus, legt sich platt darauf, hält das Gesicht dicht über die Druckschrift und »liest« vor:
»E-ja-e-e-ja nanana ana nana atta ana aje ja sa.«6
Wenn etwas Neues beginnt, ist das Alte nicht zwangsläufig abgelegt. In den Plappermonologen (ab 8. Lebensmonat) beginnt das Baby, artikulatorisch auf die besondere Klanggestalt der Muttersprache zu zielen, die es ja schon bei der Geburt hörend wiedererkennen konnte. Es hat sich nicht nur die Melodie der Muttersprache gemerkt, sondern sich inzwischen auch in die der Muttersprache eigenen Lautkontraste eingehört und lernt sie schließlich stimmlich zu bewältigen. Wie beim Hören geht dieses Sich-Einstimmen auf die muttersprachliche Klangwelt mit einem Verlust einher: Es produziert keine Laute mehr, die nicht zum Repertoire der Muttersprache gehören. Das eigentliche Lallen ist also nicht mehr vorsprachliche Stimmübung, sondern zielt auf den Erwerb der Muttersprache. Chinesische Babys lallen anders als deutsche. Kurz: Das Klangmaterial, aus dem Wörter und Sätze gebaut werden, wird bereitgestellt. Es treten Protowörter auf, wortähnliche Gebilde, die wie Wörter klingen, bei denen aber unklar ist, ob und was sie bedeuten. Protowörter und erste Wörter können schon ab dem fünften, aber auch erst im fünfzehnten Monat auftreten. Die Spannweite einer normalen Entwicklung ist groß!
Sind acht Monate nicht eine lange Zeit, um so etwas wie ein schönes, sauberes da da oder daba hervorzubringen? Weil es uns so wenig bewußte Anstrengung gekostet hat und es auch schon so lange zurückliegt, ist uns gar nicht bewußt, welch großartige Stimm-Virtuosen wir alle sind. Im Grunde ist der Lauterwerb ein hartes Stück Arbeit. Aber eben Arbeit, die allen Beteiligten Spaß macht.
Routinen: Wiederkehr des Gleichen
Wichtig sind die alltäglichen RoutinenRoutinen des Waschens, Badens, Wickelns, Füttern usw. Das Baby baut ein Episodengedächtnis auf. Es entsteht ein stabiles Erwartungsgitter. So durchschaut das Baby diese Situationen, kennt ihren Anfang, ihre Mitte und ihr Ende. Was Mama vorhat, wird ihm sozusagen evident, ja, was beide tun, ist füreinander voraussagbar. Die Dinge bekommen ihren Platz in der Welt des Kindes. Es gibt kleine Veränderungen, aber es gilt das durchgängig Gleiche: Die Welt wird sinnvoll.
Selbstverständlich gehört die begleitende Sprache als Gratisbeigabe immer dazu. Wenn das Kind dann bereit für die Sprache ist, kann es das Gesagte verstehen, weil es die Situation und den Sprecher schon längst verstanden hat.Hörmann, Hans1 Die schon bekannte, darum sinnfällige Situation macht die Sprache transparent, die das Kind nun innerlich verarbeiten und auf ihre Grammatik abklopfen kann. Die erlebte Ordnung wird wieder auffindbar in der Ordnung des Gesagten. Wir nannten es die »BodenhaftungSpracheBodenhaftung der Sprache« der Sprache.
Wie sehr Kinder auch später noch feste Strukturen lieben und einfordern, zeigt folgende Erinnerung Willy Kramps: »Abends, wenn sie zu Bett gebracht worden war, rief sie von jenseits der Stubenwand: ›Bist du da?‹ Dann mußte ich gemäß strengem Zeremoniell antworten: ›Ja, ich bin da.‹ Hierauf sie, befriedigt: ›Dann gut.‹ Und ich, abschließend (aber der Abschluß durfte nicht fehlen): ›Gut.‹ Ich muß lächeln, als ich daran zurückdenke.« Viele Eltern mögen sich an Ähnliches erinnern.
Sprache trifft somit auf ein Vor-Verständigtsein Vor-Verständigtsein des Kindes. Geglückte vorsprachliche und emotional durchtönte Kommunikation ist das Nest, in dem grammatische Sprache aufgezogen wird. Blicke, Gestik, Gesichtsausdruck, Stimme und Tonlage, Körperhaltung, d.h. die ganze Palette der Möglichkeiten, die Menschen zur Kommunikation einsetzen, gehen dem Sprechen voraus. Obwohl die Sprache selbst ein neuartiges, mächtiges Verständigungssystem darstellt, werden die älteren Signale immer mitbenutzt: ein schmeichelnder oder gehetzter Ton, ein fragender Blicke, eine wegwerfende Geste, eben Körpersprache. Erst mit der SchriftSchrift verläßt die Sprache das Nest, in dem sie geboren wurde. In Texten – seien es Romane oder Gesetzbücher – hat Sprache schließlich das Monopol. Doch wenn wir wirklich Trost und Geborgenheit suchen, sehnen wir uns nach der Nestwärme der Körpersprache und ihrer täuschungslosen Unmißverständlichkeit zurück. Im Vergleich dazu bleibt das Wort merkwürdig matt.
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