[…] das produktionsästhetische Moment des schöpferischen Arbeitsprozesses, der vom Einfall, der Organisation, der Formulierung, der Aufzeichnung, der Überarbeitung und der Korrektur bis zu Veröffentlichung verschiedene Phasen umfasst.[…] Der skizzierte Arbeitsprozess dokumentiert sich in handschriftlichen oder typographischen Spuren wie Vorarbeiten (Exzerpten, Notizen und Fragmenten, Plänen), Entwürfen, verschiedene Fassungen, Arbeitshandschriften und Korrekturfahnen […].11
Somit sind Handschriften Spiegel des künstlerischen Arbeitsprozesses. Das Untersuchungsmaterial besteht aus den handschriftlichen Dokumenten, die sich in der Åbo Akademi im finnischen Åbo befinden. Da diese in der Forschung noch vergleichsweise wenig aufgearbeitet wurden, beginnt die Untersuchung mit der Schilderung der Archivsituation, mit allgemeinen Aussagen das Material betreffend sowie einem Werkstattbericht. Um oben formulierte Fragestellungen zu bearbeiten, werden ausgewählte Dokumente präsentiert, beschrieben und schliesslich im Rahmen einer diskursiven Darstellung zu den erwähnten Problemen in Beziehung gesetzt. Zur Bearbeitung werden die Dokumente in einem ersten Schritt in konzeptionelle Dokumente einerseits, und Dokumente der Textproduktion andererseits, separiert. An dieser Unterteilung orientieren sich die Unterkapitel.
Zur eigentlichen Analyse des ungedruckten Materials bietet die critique génétique geeignete Instrumente. Sie beschäftigt sich mit Handschriften und ist der Idee der Produktion von Literatur „als ein Tun , eine Handlung, eine Bewegung“ verpflichtet.12 Dieser Rahmen ergibt folgende Prioritäten:
[…] die der Produktion gegenüber dem Produkt, des Schreibens gegenüber dem Geschriebenen, der Textualisierung gegenüber dem Text, des Vielfältigen gegenüber dem Einzigartigen, des Möglichen gegenüber dem Abgeschlossenen, des Virtuellen gegenüber dem ne varieteur, des Dynamischen gegenüber dem Statischen, des Vollbringens gegenüber dem Vollbrachten, der Genese gegenüber der Struktur, der Äusserung gegenüber der Aussage, der bewegenden Kraft des Schreibens gegenüber der festgefrorenen Form des Gedruckten.13
Für das vorliegende Kapitel impliziert dies eine Herangehensweise, die dem handschriftlichen Material einen besonders hohen Status zukommen lässt und somit, materialitätstheoretisch gesprochen, ebenfalls dem Material und nicht nur der Form oder Idee eine Relevanz zuspricht.
Die Resultate bilden letztlich auch eine neue Basis für die viel geäusserte Behauptung, die Muminbücher seien Artefakte. Weiter werden die Erkenntnisse als Grundlage für die darauffolgenden Analysekapitel nutzbar gemacht, in denen untersucht wird, inwiefern die Gemachtheit von Literatur und seinem Medium, dem Buch, einerseits im Paratext der gedruckten Version reflektiert wird, andererseits auf inhaltlicher Ebene anhand von Schreib- und Leseszenen.
2.1. Sammeln – archivieren – dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial
Janssons Hinterlassenschaft besteht neben ihrem umfassenden gedruckten literarischen Werk auch aus zahlreichen vollgeschriebenen Agenden und Tagebüchern, Skizzen und Manuskripten. Weiter schrieb sie ebenfalls Unmengen an Briefen und Postkarten. Es scheint daher legitim, Jansson als eine exzessive Schreiberin zu bezeichnen, sowohl im beruflichen wie auch im privaten Kontext. Dieses ganze Material wurde von Jansson gesammelt und akribisch geordnet. Dadurch entstand in ihrem Atelier in Helsinki eine Art privates Archiv, das jedoch bislang der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Bis heute hatte lediglich die Jansson-Forscherin Boel Westin unbegrenzt Zugang. Tove Jansson ist daher nicht nur eine exzessive Schreiberin, sondern eine ebensolche Sammlerin, was sich in der geschilderten Autoarchivierung ausdrückt. Das Material im Atelier wird von Westin, wenig erstaunlich, als äusserst umfangreich beschrieben. Die Dokumente sind sorgsam in Mappen oder Schubladen verwahrt, geordnet in verschiedene Bereiche mit Titeln wie: Presse, Manuskripte, Illustrationen oder Dankesreden.1 Jansson schien bestrebt, einen wichtigen und wertvollen Teil ihrer Produktion durch eine systematische Aufbewahrung zu erhalten. Vom Verlag verlangte sie zu diesem Zweck sogar explizit gedruckte Versionen einzelner Bücher oder etwa eingesandte Manuskripte zurück.
Die Forschung hingegen beachtet die Handschriften bis dato lediglich marginal. 2014, anlässlich von Janssons 100. Geburtstag, erschien das Buch Brev från Tove Jansson „Briefe von Tove Jansson“ mit Transkriptionen einer Auswahl von Briefen. Herausgegeben wurde es von Boel Westin und Helen Svensson. Das Projekt deutet vielleicht auf einen möglichen Wandel diesbezüglich hin. Auch wurden die Vorarbeiten kaum einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, etwa in Ausstellungen, wie man dies etwa von anderen Autoren kennt. Anders zeigt sich die Situation bei den Skizzen für die Illustrationen. Seit 1986 befindet sich ein grosser Teil im Tammerfors Kunstmuseum, wo sie besichtigt werden können. Viele der Originalillustrationen sind jedoch verlorengegangen, sei es durch Ausstellungen, bei Verlagen oder sonstigen Ausleihen.2
Das grösste öffentlich zugängliche Konvolut an handschriftlichem Material gelangte durch eine Schenkung Janssons im Jahr 1978 in den Besitz der finnischen Åbo Akademi. Die Tove-Jansson-Sammlung in der Handschriftenabteilung besagter Åbo Akademi besteht aus neunzehn Mappen. Diese umfassen Manuskripte zu den Muminbüchern sowie Material zu einigen ihrer Romane für Erwachsene. Ebenfalls befindet sich ein Teil ihrer Briefkorrespondenz dort. Für die vorliegende Arbeit sehr fruchtbar etwa diejenige mit Schildts, ihrem finnischen Verlag. Das ungedruckte Material in der Åbo Akademi zeichnet sich durch eine grosse Bandbreite an unterschiedlichen Dokumenten aus, was es für eine Analyse besonders interessant macht. Es besteht aus Bilderskizzen, Textentwürfen und konzeptionellen Schriften. Wobei hier darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass Skizzen zu den Illustrationen ausser im Falle von Pappan och havet nur sehr spärlich vorhanden sind. Beim Untersuchungsmaterial handelt es sich bekanntlich um eine Schenkung der Künstlerin. Das Material zur Schenkung wurde von ihr zusammengestellt. Teilweise versah sie es sogar mit Notizen, in denen sie sich etwa für deren Unvollständigkeit entschuldigt. Das Material wurde für die Öffentlichkeit präpariert und, so ist anzunehmen, durch die Künstlerin im Rahmen einer selbstgesteuerten Kanonisierung zensiert, diente somit ebenfalls einer Selbstdokumentation. Dies sind Umstände, die zu einem äusserst kritischen Umgang mit dem Material anhalten. Mit anderen Worten, Jansson stellte für ihre Werke selbst einen avant-texte her. Mit dem Begriff avant-texte bezeichnet Grésillon die „Gesamtheit aller überlieferten und chronologisch geordneten schriftlichen Zeugen zur Genese eines (vollendeten oder unvollendeten) Werkes.“3 Dies wiederum setzt laut Axel Gellhaus einen hoch entwickelten Begriff des Texts voraus, „dessen Entstehungszusammenhang man lediglich positiv-wissenschaftlich dokumentieren will.“4 Grésillon weist darauf hin, dass das Aufbewahren von Vorarbeiten ein neues Phänomen ist. Im 16. und 17. Jahrhundert gehörte dies nicht zur gängigen Praxis. Dies änderte sich auch im 18. Jahrhundert nicht, wo sich die Idee der Genieästhetik etablierte. Erst im 20. Jahrhundert begannen die Künstler damit, die Regeln der ästhetischen Produktion offenzulegen und zu kommentieren.5
Besagtes Material präsentiert sich in der Handschriftenabteilung der Åbo Akademi in einem weitgehend guten Zustand, wenn auch nicht ganz vollständig und weder durchgängig nummeriert noch datiert. Eine klare Vorliebe für ein spezielles Schreibgerät ist nicht zu erkennen. Jansson schrieb sowohl mit Bleistift als auch mit Tinte oder Kugelschreiber, in der Regel sehr gut leserlich und stets in Schreibschrift. Schreibrichtung und -grösse variieren stark in den einzelnen Dokumenten. Die Farbe variiert ebenfalls und reicht von Grün über Blau bis zu Schwarz. Weiter schrieb sie häufig auf lose Blätter im Format A4, aber auch auf Notizzettel unterschiedlichster Grösse und Art, in Hefte oder bei Umarbeitungen auch gerne direkt in eine bereits edierte Version. Sie schrieb meist im Hochformat. Das Papier, das Jansson wählte, ist liniert, unliniert oder auch kariert. Ferner finden sich bei den Textentwürfen sowohl vertikale als auch horizontale Faltspuren.
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