Sich auf die Seite der Materialität zu schlagen heisst, Stellung zu beziehen gegen den Idealismus, gegen alle Vorstellungen eines bereinigten und idealen Texts, gegen den „Geist“ oder die blosse Ergründung der ästhetischen Normen des literarischen Texts. Auf der anderen Seite richtet sich Materialität auch gegen die Auffassung, dass Texte unabhängig von ihrer Rezeption und dem kulturellen Kontext ihrer Produktion existieren […].23
Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit ein breit gefasster Materialitätsbegriff verwendet, der konkret stoffliche Aspekte beinhaltet, die beispielsweise bei der viel gelobten Buchgestaltung Tove Janssons evident werden. Ferner beinhaltet er ebenfalls das Machen von Literatur als Kunst in ihrer Materialität – also das physische Arbeiten –, was sich etwa in spezifischen Arbeitspraktiken wie auch poetologische Reflexionen dieser Thematik zeigt. Der geschilderte Materialitätsbegriff wird ausserdem vor dem Hintergrund einer Prozessualität betrachtet, welche Tove Janssons Schaffen inhärent ist. Dies belegt etwa die turbulente Herausgebergeschichte der Muminbücher, ein Kunstprojekt, welches sich während über 20 Jahren stetig erweitert und erneuert hat. Mit anderen Worten, Materialität wird in der vorliegenden Arbeit als ein dynamisches, veränderliches Konzept verstanden, was wiederum mit der erwähnten Prozessualität einhergeht.
1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung?
Im Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung scheint eine gewisse Sensibilität für verschiedene Aspekte der Materialität zu erwachen. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Arbeit von Elina Druker, in der sie sich dem Thema der Materialität der Bilderbücher in Skandinavien widmet. Sie betrachtet das Buch dezidiert als Kunstprojekt und untersucht dabei Werke unterschiedlicher skandinavischer Autoren, auch von Tove Jansson. Im Kapitel „Bilderbokens konstruktion“ „Die Konstruktion des Bilderbuchs“ behandelt sie das Bilderbuch Hur gick det sen? . Darin wird explizit auf das Spiel mit dem Bild- und Buchmedium, mit den Begriffen „Buch“ und „Literatur“ hingewiesen.1 Weiter nähern sich im Tagungsband Tove Jansson rediscovered (2007) einige Beiträge diesen Thematiken. So widmet sich etwa Evelyne Arizpe in ihrem Artikel dem Vorkommen von Texten in den Erzählungen und damit Aspekten der Selbstreferenzialität. Dabei geht sie insbesondere auf die Darstellung Pappans als Autobiograf in Muminpappans memoarer ein. In diesem Geist widmet sich Elina Druker im selben Band selbstreferenziellen Bildern, also Bilder, welche von fiktiven Charakteren stammen. Dazu zählen etwa die Skizze des Theaters, die die Theaterratte Emma in Farlig midsommar anfertigt, oder Pappans Skizze, die er im Zuge seiner Arbeit in Pappan och havet erstellt. Inwiefern in der Jansson-Forschung ein Materialitätsbegriff, wie er im vorigen Unterkapitel hergeleitet wurde, präsent ist, respektive in welcher Hinsicht jedoch tatsächlich von einem material turn gesprochen werden kann, wird der folgende Forschungsüberblick aufzeigen.
Im Takt mit der steigenden Berühmtheit Janssons erwachte auch das Interesse der Forschung an ihrem Schaffen. Wie beschrieben, gilt Jansson als eine Künstlerin, die sich in unterschiedlichen Gebieten ausprobiert. Die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sich jedoch mit ihrem literarischen Schaffen. Bis heute ist die Menge an Artikeln und kürzeren Arbeiten auf ein unüberblickbares Mass angestiegen. Im Gegensatz dazu wurde seit den Anfängen der Forschung vor mittlerweile ca. 60 Jahren eine vergleichsweise bescheidene Anzahl an Monografien verfasst. Der folgende Überblick konzentriert sich auf die wichtigsten. Dabei kommt den Muminbüchern die grösste Aufmerksamkeit zu, während etwa die Bilderbücher wie auch ihre Literatur für Erwachsene von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt wurden und werden. Jansson-Forschung ist daher bis heute in erster Linie Mumin-Forschung.2
Zu den Pionieren gehört etwa Sonja Hagemann mit ihrem Werk Mummitrollbøkene. En litterær karakteristikk „Die Muminbücher, eine literarische Charakterisierung“. Es handelt sich hierbei um eine gedruckte Probevorlesung, die 1967 erschien. Aus dem Jahr 1975 stammt Kirsten Omlands Dissertation Tryggheten og skrekken. Utviklingen i Tove Janssons muminforfatterskap „Sicherheit und Schreck. Die Entwicklung in Tove Janssons Muminautorschaft“.
In den 1980er-Jahren erreichte die Jansson-Forschung einen ersten Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammen drei grosse Studien (Holländer 1983, Jones 1984, Westin 1988). Die ersten beiden Arbeiten gehen von einer Entwicklungslinie aus, die sich an den Muminbüchern ablesen lässt. Eine Entwicklungslinie weg vom Kinderbuch hin zur Literatur für Erwachsene. Diese Vorstellung lag zu dieser Zeit den meisten wissenschaftlichen Arbeiten zugrunde. Im Falle von Tove Holländers Arbeit wird dies bereits im Titel evident: Från idyll till avidyll „Von Idylle zu Nicht-Idylle“ deutet die Idee einer Entwicklungslinie innerhalb der Muminreihe an, in der sich das Muminbuch im Laufe der Zeit vom Kinderbuch zum Buch für Erwachsene wandelt, was jeweils als eine stetige Verbesserung gewertet wurde. Tove Holländer widmet sich in ihrer Arbeit den Illustrationen aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive. Ihr Korpus besteht aus den Muminbüchern wie auch den Bilderbüchern. Sie interessiert sich für einzelne Motive, Technik und Stil der Illustrationen. Auch das Zusammenspiel von Text und Bild analysiert sie. Ausserdem widmet Holländer ein Kapitel dem Schaffensprozess. Dabei beschreibt sie sehr kurz, was an Skizzen und sonstigen Vorarbeiten vorhanden ist. Holländer stellt fest, dass sich der Arbeitsprozess von einer unbewussten Suche in einen bewussten, systematischen Arbeitsprozess wandelt.3 Weiter kommt sie zum Schluss, dass sich besagte Entwicklungslinie, welche sich auf inhaltlicher Ebene beobachten lässt, ebenfalls bei den Illustrationen nachweisen lässt. Diese seien bei den frühen Muminbüchern illusionistisch und relativ wirklichkeitsgetreu und würden schliesslich mehr und mehr expressiv, was sich, so schlussfolgert Tove Holländer, mit dem Prozess der stetigen Psychologisierung der Muminbücher deckt.4
Glyn Jones beleuchtet die Bücher von Småtrollen och den stora översvämningen (1945) bis Den ärliga bedragaren (1984), was zu Janssons Spätwerk zählt, also der Literatur für Erwachsene. Damit behandelt er sämtliche Werke Janssons, die zur damaligen Zeit erschienen waren. Sein Ziel ist es ebenfalls, den Wandel vom Kinderbuch zum Erwachsenenbuch nachzuzeichnen. Er konstatiert, dass die Muminbücher immer komplexer wurden und das Bilderbuch als Medium für Jansson als Künstlerin nicht mehr ausreichte, sie schliesslich gar hemmte. Daraus folgt für Jones schliesslich ein unumgänglicher Wechsel zum Schreiben für Erwachsene.5 Die Entwicklung macht er unter anderem an den Veränderungen der Themen fest, die in den Erzählungen verhandelt werden. „En av följderna blir en ökad upptagenhet av frågeställningar om konst, ingivelse, konstnärlig integritet och konstnärens roll.“6 „Eine der Folgen ist eine vermehrte Beschäftigung mit Fragestellungen zu Kunst, Eingebung, künstlerischer Integrität und Künstlerrolle.“ Damit tönt er Fragestellungen an, welche auch in der vorliegenden Arbeit relevant sein werden. Weiter erwähnt Glyn Jones ebenfalls die stark visuelle Komponente als ein Charakteristikum von Janssons Werk.7
Boel Westin bricht in ihrer Dissertation Familjen i dalen. Tove Janssons muminvärld „Die Familie im Tal. Tove Janssons Muminwelt“ mit dieser holistischen Sichtweise und betrachtet die Muminbücher bewusst als separate Werke, ohne jedoch zu verneinen, dass sich die einzelnen Muminbücher in ihrer Art stark voneinander unterscheiden. Entsprechend macht sie die künstlerische Einzigartigkeit jedes einzelnen Muminbuchs stark. Die Quelle für deren Unterschiedlichkeit sieht Westin in Janssons Funktion als Bildkünstlerin:
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