Text-Bild-Beziehungen, Arbeitsprozesse, Künstleridentität und die Muminwelt sowie das Buch als Kunstwerk sind Themen, die immer wieder gestreift werden. Dies macht der Überblick über die Monografien deutlich. Gleichermassen wurde evident, dass diese Themen ein marginales beziehungsweise meist eher beiläufiges Dasein fristen. Aus diesem Grund kann man von einem material turn in der Jansson-Forschung nicht sprechen. Im Unterschied zu den vorgestellten Arbeiten zu Tove Janssons Schaffen werden nachfolgend die oben genannten Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, als gleichwertige Koponenten eines facettenreichen Materialitäsbegriffs, wie er vorgängig beschrieben wurde.
1.4. Disposition und Korpuswahl
Die Suche nach einem Materialitätsbewusstsein, welches sich auf einer stofflichen wie auch poetologischen Ebene offenbart, liegt als kleinster gemeinsamer Nenner sämtlichen Analysekapiteln zugrunde. Diesem komplexen Materialitätsbegriff wird im Aufbau der Arbeit Rechnung getragen, indem sich auch die Analysen, in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand, auf verschiedenen Ebenen bewegen: Auf der Ebene des ungedruckten Materials, also den Vorarbeiten unterschiedlichster Art, auf inhaltlicher Ebene und schliesslich auch auf der Ebene des Buchs als Objekt. Letzteres geschieht auf zwei unterschiedliche Arten. Einmal steht die Inszenierung des Buchs als solches im Vordergrund, einmal die Buchgestaltung. Eine derartige Herangehensweise ergibt ein besonders differenziertes Bild der Reflexion der erwähnten Themen. Die theoretische Grundlage der Analysen stützt sich auf ein breites und interdisziplinäres Gerüst an Medien-, Materialitäts- sowie editionsphilologischen Theorien. Wichtige Namen werden bereits in der Disposition genannt. Jedes Kapitel wird jedoch mit konzeptionellen und theoretischen Ausführungen eingeleitet.
Spricht man vom Buch als Artefakt, lenkt dies den Blick unweigerlich auch auf die Genese des Kunstwerks. Das Interesse der Literaturwissenschaft an Handschriften ist keineswegs neu, hat ihren Fokus jedoch verändert beziehungsweise im Sinne des material turns erweitert:
Die Beschäftigung mit der Handschrift hat, auch wenn es um Manuskripte von Autorinnen und Autoren geht, keine Textkonstitution mehr zum Ziel, vielmehr sind es die Materialität und die Ästhetik der Handschrift, die in den Blick der Literaturwissenschaft geraten.1
In diesem Sinne wird im ersten Analysekapitel das ungedruckte Material untersucht. Thomas Wortmann weist darauf hin, dass gerade die critique génétique dazu wichtige Impulse geleistet hat.2 Dies liegt vor allem an ihrem Werkbegriff:
Nur das Werk , so heisst es, könne ästhetische Werte vehikulieren, nicht aber das, was die „critique génétique“ als „avant-texte“ bezeichnet.[…] Dieser Auffassung hält die „critique génétique“ entgegen, dass das Werk nicht den einen, abgeschlossenen, vollkommenen Text meint, sondern den gesamten Verschriftungskomplex, der zwar diesen Text mit einschliesst, aber daneben auch sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften integriert, die diesem Text vorausgehen.3
Entsprechend bildet die critique génétique eine wesentliche theoretische Basis dieses Kapitels. Sie etablierte sich in den 1960er-Jahren in Frankreich und geht auf ideologische Vorläufer wie Stéphane Mallarmé und Paul Valéry zurück. Valéry war daran beteiligt, das ästhetische Interesse vom Produkt auf die Produktion zu lenken.4 Als Grundlagentext der critique génétique gilt Edgar Allan Poes Gedicht The Philosophy of Composition : „one of the foundational texts of French genetic criticism“.5 Darin wird ein dezidiert mechanischer Schreibprozess beschrieben. So wie beim Material der Blick vom Produkt auf die Produktion gewendet wird, wird der Künstler als Produzent, als Handwerker gesehen. Diesbezüglich dienen die Texte von Gottfried Benn Probleme der Lyrik (1968) und Walter Benjamin Der Autor als Produzent (1977) als Grundlage.
Die Produktion von Literatur wird in einem weiteren Kapitel beleuchtet, in dem sich der Fokus auf die zahlreich vorhandenen Schreib- und Leseszenen in den Muminbüchern richtet. Die intensive schriftstellerische Tätigkeit vor allem Muminpappans lädt geradezu dazu ein, zu untersuchen, wie das Produzieren und Rezipieren von Literatur sowie unterschiedliche Konzepte von Autorschaft in den Texten selbst verhandelt werden. Denn „Schreibakte sind […] nicht nur Aufzeichnungsakte. Es sind auch Akte, in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden.“6 Bezüglich der Schreibszenen sind die Ausführungen Rüdiger Campes Die Schreibszene. Schreiben (1991) sowie von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti „Schreiben heisst: sich selber lesen“ (2008) massgeblich. Die Schreibszene wird dabei als ein Konvolut verschiedenster Handlungen gesehen, das den Akt des Schreibens performativ beschreibt, beziehungsweise rahmt. Somit wird das Schreiben in seiner Materialität betont. In einem engen Zusammenhang mit den Schreibszenen stehen Konzeptionen von Autorschaft, die als Spiegelungen unterschiedlicher Künstleridentitäten interessant sind (vgl. Behschnitt (1999), Amstutz (2004), Bohnenkamp (2001)) und in der Analyse daher ebenfalls Beachtung finden. Bezüglich der Prozesse der Werkentstehung und der Künstlerrolle bildet dieses Kapitel also eine Erweiterung zum vorausgehenden.
Von den Reflexionen über das Machen von Literatur, von Literatur als Kunst und dem Rollenbild des Künstlers wendet sich der Blick im darauf folgenden Analysekapitel Richtung Buch. Dem Buch wird oftmals eine düstere Zukunft prophezeit. Michel Butor sieht jedoch gerade in der wachsenden Konkurrenz durch andere Medien eine Chance für das Buch, seine „Würde als Monument“zurückzubekommen.7 „Zeitung, Funk, Fernsehen und Film werden das Buch zwingen, immer ,schöner‘, immer ,dichter‘ zu werden.“8, postuliert er. In diesem Sinne widmet sich das dritte Analysekapitel dem Buch als Artefakt. Um sich dieser Thematik anzunähern, muss in einem ersten Schritt geklärt werden, was ein Buch ausmacht und wie sich die Begriffe „Buch“ und „Text“ auseinanderhalten lassen. Diesbezüglich sind etwa folgende Arbeiten relevant: Jürgen Nelles Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts (2002), Bill Brown A sense of things. The object matter of American literature (2003), Erika Fischer-Lichte Ästhetik des Performativen (2004). Grundlegend für die Analyse ist jedoch das Konzept des Paratexts nach Gérard Genette. Denn durch den Paratext, so Genette, wird ein Buch erst zum Buch.9 Genauer wird erörtert, welche paratextuellen Elemente eingesetzt werden, um das Buch als solches in Szene zu setzen. Mit anderen Worten, es geht um eine fundamentale Rahmung des Textes, sodass dieser als Buch wahrgenommen wird, und nicht in erster Linie um physische Merkmale des Buchs.
Die Thematik des vorherigen Kapitels weiterführend, steht im vierten und letzten Analysekapitel die Buchgestaltung im Mittelpunkt. Untersucht werden klassische paratextuelle Elemente wie etwa das Cover oder die Titelseiten. Dabei steht jedoch deren visuelles Erscheinungsbild im Vordergrund. Ebenfalls analysiert wird das Seitenlayout, genauer die Relation von Text und Bild, Typografie und Farbgebung. Wohl attestiert Genette dem Visuellen ebenfalls eine Bedeutung, wie folgendes Zitat beweist:
Doch muss man zumindest den paratextuellen Wert bedenken, den andere Erscheinungsformen annehmen können: bildliche (Illustrationen), materielle (alles, was zu den typographischen Entscheidungen gehört, die bei der Herstellung eines Buches mitunter sehr bedeutsam sind) […].10
Trotzdem bezieht er diese Aspekte nicht in seine Untersuchung mit ein. Ferner wird in der Untersuchung ein besonderes Augenmerk auf die dritte Dimension des Buchs, auf dessen Physis gelegt, um deren Bedeutung im Gestaltungskonzept zu beleuchten. Carlos Spoerhase liefert für diese Überlegung mit Linie, Fläche, Raum. Die dritte Dimension des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (2016) einen Grundlagentext. Das Kapitel widmet sich also dem Buch als gestalterisches Kunstwerk und somit auch Tove Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern Buchkünstlerin.
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