Der Begriff des ‚Staunens‘ („étonnement“) hat in der europäischen Ideengeschichte eine lange Tradition14, die mit der philosophischen Erkenntnislehre beginnt, in der das Staunen Antrieb der Erkenntnis war und durch diese überwunden werden musste – so Aristoteles – oder – so Platon – in der erkennenden Schau der Ideen eine Steigerung erfuhr. Bei den antiken Rhetorikern interessierte Staunen als wirkungsästhetische Größe der Publikumspsyche. In der Neuzeit ist der Begriff durch die dem nachchristlichen Rhetor Kassios Longinos zugeschriebene anonyme Schrift Peri hypsus poetologisch fruchtbar geworden, die nach ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance in der Übersetzung durch Boileau die ästhetische Diskussion im 17. und 18. Jh. mitgeprägt hat. Vom Pseudo-Longinos wird dem Menschen ein natürliches Streben nach dem Ungewöhnlichen, dem Großen und Schönen zugeschrieben (35, 2ff.) und diesem werden als Wirkung das Staunen (ékplexis) und die Ekstase (ékstasis) zugeordnet (1, 4). Edmund Burke hat in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 die Wirkung des Erhabenen („sublime“) als „delightful horror“ beschrieben, als eine Mischung aus Faszination und Schrecken, die Kant wenig später mit den menschlichen Erkenntnisvermögen der Sinne einerseits und des reinen Denkens andererseits erklärt hat. Im 19. Jahrhundert hat diese Diskussion an Bedeutung verloren, doch ist ihr Echo in Baudelaires Überlegungen zur künstlerischen Ekstase und zum ästhetischen Staunen unüberhörbar. In jüngster Zeit hat man Baudelaires Verwendung des Begriffs ‚Staunen‘ als Bestandteil einer „Poetik des Stupors“ zu deuten versucht und mit dem psychiatrischen Diskurs des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht15. Auch wenn Baudelaire zweifellos die einschlägigen medizinischen Diskussionen seiner Zeit kannte, ist ‚Staunen‘ für ihn aber zuallererst ein ästhetischer Begriff mit positiver Bedeutung. Staunen und staunen machen sind, wie es kurz vor der zitierten Stelle heißt, ein legitimes Bedürfnis des Menschen, weil sie einen Glückszustand („bonheur“) schaffen, wie er, wiederum unter Bezugnahme auf Poe, erklärt:
Le désir d’étonner et d’être étonné est très légitime. It is a happiness to wonder, „c’est un bonheur d’être étonné“; mais aussi, it is a happiness to dream, „c’est un bonheur de rêver“.16
Neben dem Staunen wird hier auch das „Träumen“ („rêver“) als glücklicher Zustand17 bezeichnet. Dass die „rêverie“ für Baudelaire eine ästhetische Qualität hat, geht aus einer Bemerkung in der Exposition universelle 1855 hervor, sein Urteil über Bilder werde davon bestimmt, wie viele Vorstellungen und „Träumereien“ sie in ihm auslösten:
Il m’arrivera souvent d’apprécier un tableau uniquement par la somme d’idées ou de rêveries qu’il apportera dans mon esprit. (S. 579)
Die „rêverie“ ist daher auch ein wesentlicher Bestandteil seines persönlichen Schönheitsbegriffs, den er um dieselbe Zeit in einer Notiz der Journaux intimes festgehalten hat.
J’ai trouvé la définition du Beau, – de mon Beau. C’est quelque chose d’ardent et de triste, quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture. Je vais, si l’on veut, appliquer mes idées à un objet, par exemple, le plus intéressant dans la société, à un visage de femme. Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, – mais d’une manière confuse, – de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, – soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau.
Une belle tête d’homme n’a pas besoin de comporter, excepté peut-être aux yeux d’une femme, – aux yeux d’un homme bien entendu – cette idée de volupté, qui dans un visage d’une femme est une provocation d’autant plus attirante que le visage est généralement plus mélancolique. Mais cette tête contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, – des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées, – l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse, […] quelquefois aussi, – et c’est l’un des caractères de beauté les plus intéressants, – le mystère, et enfin (pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique), le Malheur. – Je ne prétends pas que la Joie ne puisse pas s’associer avec la Beauté, mais je dis que la Joie en est un des ornements les plus vulgaires; – tandis que la Mélancolie en est pour ainsi dire l’illustre compagne, à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur.18
Die Notiz nennt drei Merkmale, über die der Tagebuchschreiber sich nach langem Suchen – zumindest suggeriert dies seine Formulierung – klar geworden ist. Die beiden ersten sind im weiten Sinne moralische Eigenschaften („quelque chose d’ardent et de triste“) eines menschlichen Schönen, das dritte ist eine wirkungsbezogene Eigenschaft („quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“). Was sie konkret bedeuten, wird an Beispielen demonstriert, wobei zwischen weiblicher und männlicher Schönheit unterschieden wird. Dem weiblichen Schönen in Form einer „tête séduisante et belle […] de femme“ ordnet Baudelaire „volupté“ und „tristesse“ zu. Für die „tristesse“ stehen „mélancolie“, „lassitude“ und „satiété“, für die „volupté“ die Eigenschaften „ardeur“ und „désir de vivre“, die freilich durch eine „amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance“ gebrochen sein müssen. Es ist ein Frauenideal, dem er so wiederholt Ausdruck verliehen hat19. Für die männliche Schönheit verlangt er ebenfalls eine „belle tête d’homme“, die glühende und zugleich gebrochene Leidenschaft20 ausdrücke, in diesem Fall ein Streben nach Höherem sowie finster unterdrückten Ehrgeiz („des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées“), was die Vorstellung einer ziellos grollenden, bisweilen auch rachsüchtigen Macht hervorrufe („l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse“). Auch hier paart sich die „tristesse“ mit Melancholie, die er ausdrücklich der „Joie“ („un des ornements les plus vulgaires [du Beau]“) vorzieht und die bis zum Unglück gehen kann, das, wie er betont – „pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique“ –, ein notwendiger Bestandteil des modernen Schönen sei: „à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur “. Die vollkommene Verkörperung dieses männlichen Schönheitsideals stellt für ihn Miltons Satan dar:
Appuyé sur, – d’autres diraient: obsédé par – ces idées, on conçoit qu’il me serait difficile de ne pas conclure que le plus parfait type de Beauté virile est Satan – à la manière de Milton.21
Damit bekennt Baudelaire sich zum dämonischen Idealbild der schwarzen Romantik, in dem zu den allgemein romantischen Zügen der Melancholie und des „malheur“ noch die Schattenseite des Menschen, seine „part infernale“, tritt22. Das sind die Taten, deren das Individuum sich nur mit Schaudern erinnert, die aber zur Komplexität und Vollständigkeit der Person gehören, weil sie zum „concert, agréable ou douloureux, mais logique et sans dissonances“ derselben beitragen23. Die Darstellung dieses „luziferischen“ Teils des Menschen ist für ihn ein Kennzeichen der modernen Kunst mit ihrer ständig zunehmenden „tendance essentiellement démoniaque“.24
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