Wie man sieht, ein sehr weitgehender Kommunismus, der allerdings nur auf die Angehörigen der beiden oberen Stände sich bezieht, also nur einen Halbkommunismus darstellt. Von einer Ausdehnung auf das erwerbende Volk hielt Plato wohl zunächst, wie schon angedeutet, sein aristokratisches Mißtrauen gegen die »von Natur unphilosophische« Masse ab. Dann aber waren ja auch zu seiner Zeit die wirtschaftlichen Vorbedingungen (Großbetrieb usw.) für einen Voll- und Produktionssozialismus bei weitem nach nicht vorhanden. Und die Herbeiführung des neuen Sozialstaates durch völlige Umgestaltung des bisherigen kann er sich eben nur als von oben herunter geleitet vorstellen. Zuerst hoffte er wohl, daß die in seiner »Akademie« in seinem Sinne erzogenen Jünger das neue Geschlecht mit dem neuen Geiste erfüllen sollten; denn Staatsverfassungen wachsen nicht auf den Bäumen, sondern wurzeln in der Sinnesart der Bürger. In diesem Sinne war wohl auch sein bekannter Satz gemeint: »Nicht eher wird eine Erlösung von den Übeln in den Staaten, ja beim Menschengeschlecht überhaupt eintreten, ehe die Philosophen zur Regierung kommen oder die jetzigen Könige und Machthaber gründlich philosophieren.« Und er hat auch mehrmals – bei dem älteren wie bei dem jüngeren Dionys – einen praktischen Versuch gemacht. Allein seine Hoffnungen, einen ähnlichen politischen Einfluß wie einst der Bund der Pythagoreer in Griechenland (siehe Seite 18) zu gewinnen, schlugen fehl. Dennoch versiegte sein hochgespannter Idealismus nicht. Gegen Ende seines Lebens entwarf er in einem neuen Buche, den »Gesetzen« , die Grundzüge eines zweit besten Staates, der den bestehenden Verhältnissen besser angepaßt, mehr Aussicht auf Verwirklichung böte.
Er denkt ihn sich als eine Art Agrarkolonie im Innern der großen Insel Kreta, die, nebenbei bemerkt, ebenso wie das alte Sparta in vergangener Zeit allerlei sozialistische Einrichtungen besessen hatte und so einen gewissen Anknüpfungspunkt bot. Das ganze Staatsgebiet ist, ähnlich wie im Sparta des sagenhaften Gesetzgebers Lykurg, in lauter gleiche »Landlose« (5040 an Zahl) für alle Vollbürger aufgeteilt. An die Stelle völliger Aufhebung der Familie für die beiden oberen Stände ist eine sorgfältige Überwachung der Ehen und des häuslichen Lebens aller, an die Stelle der »Ideen«erkenntnis eine mathematisch-musische (siehe oben) Ausbildung nebst einer geläuterten Staatsreligion getreten, an Stelle der »Philosophen« regiert eine Vereinigung der einsichtigsten und bewährtesten Bürger nach geschriebenen, aber fortbildbaren Gesetzen. Mit dieser Abschwächung des Staatsideals der »Republik« sind jedoch andererseits wesentliche Fortschritte (in unserem Sinne) verbunden. Die starre Trennung der Stände ist gemildert, die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten beinahe geschlossen; der Wert der wirtschaftlichen Arbeit wird stärker gewürdigt, der Volksbildung aller Klassen, nicht zu vergessen der weiblichen Jugend, größere Aufmerksamkeit geschenkt. Der bedeutsamste Fortschritt aber ist der, daß im Gegensatz zum Halbkommunismus der »Republik« der Vollsozialismus , das heißt die volle Wirtschaftsgemeinschaft für sämtliche Staatsbürger – zu denen allerdings die unfreien Landarbeiter nicht gehören – wenigstens grundsätzlich ins Auge gefaßt wird. Jeder soll sein Ackerlos, ja »sich selbst und seine Habe« als »Gemeingut des ganzen Staates« ansehen. Eine Gemeinsamkeit alles Eigentums und der gesamten Bewirtschaftung von Grund und Boden wäre noch »zu groß für das heutige Geschlecht und die Art, wie es aufwächst und erzogen wird«. Es bleibt, zusammen mit der Gemeinsamkeit der Frauen und Kinder und aller Habe, ein Ideal »vielleicht für Götter und Göttersöhne«, von dem der Philosoph nicht weiß, »ob es irgendwo existiert oder dereinst kommen wird« (Fünftes Buch der »Gesetze«).
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Wir haben den Hauptinhalt von Platos Staatslehre auch deshalb etwas ausführlicher dargestellt, weil man darin noch einmal den ganzen Plato mit seiner Ideenlehre, Psychologie und Ethik, überhaupt in seiner Eigenart wie in einen Brennpunkt zusammengefaßt erblickt. Die Hoffnung, die er auf seine Schüler setzte, erfüllte sich nicht. Wohl hat die »Akademie« länger als irgendeine andere Philosophenschule, beinahe noch ein Jahrtausend hindurch bestanden. Aber in all dieser Zeit hat sie wohl manchen redlichen Mann, aber keinen einzigen hervorragenden Kopf hervorgebracht, außer dem erst sechs Jahrhunderte später lebenden Plotín. Sie haben sich gerade an das weniger Dauerhafte in ihres Meisters Lehre, an die mystischen Neigungen und pythagorisierenden Gedanken seines Alters, die wir mit Absicht übergangen haben, angeschlossen und außerdem populären praktisch-ethischen Erörterungen sich zugewandt, denen wir in anderem Zusammenhang noch begegnen werden. Der einzige seiner Schüler, der weltgeschichtliche Bedeutung für sich in Anspruch nehmen kann, schlug völlig andere Bahnen ein. Es war Aristóteles .
Inhaltsverzeichnis
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Euthyphron
(Über die Frömmigkeit)
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Als Erörterung über den Begriff der Frömmigkeit, die im »Protagoras« ebenfalls unter den Teilen der Tugend aufgeführt wird, schließt sich auch der »Euthyphron« an jenes Gespräch. Allein mit dem »Laches« und »Charmides« verglichen erscheint er dennoch als eine sehr untergeordnete Arbeit, weil nicht nur seine dürftige Bekleidung gegen den Reichtum und die Pracht in jenen beiden sehr nachteilig absticht, sondern auch sein innerer Gehalt mit jenen verglichen sich nicht viel besser ausnimmt. Denn man kann im »Euthyphron« weder eine fortschreitende Berichtigung der allgemeinsten ethischen Ideen nachweisen, noch auch, wenn man bei dem einzelnen Begriff stehen bleiben will, der den unmittelbaren Gegenstand der Untersuchung ausmacht, finden sich hier solche indirekte Andeutungen, welche den aufmerksamen Leser hinreichend mit der Ansicht des Verfassers bekannt machen; sondern sowohl die Beschränktheit des Zwecks als die bloß skeptische Behandlung des Gegenstandes liegt hier ganz deutlich zu Tage. Daß nun ein so wesentliches Element der den Platonischen Gesprächen eigenen Bildung hier gänzlich fehlt, dieses könnte leicht den Verdacht erregen, ob nicht unser Gespräch hier unter diejenigen gehöre, die dem Platon abzusprechen sind; und bestärkt wird dieser Verdacht durch manche Einzelheiten in der Ausführung, welche anstatt des schon bewährten und gebildeten Meisters eher einen nicht ganz unglücklichen und deshalb selbstgefällig sich brüstenden Nachahmer verraten, der das mäßige Erwerbtum einer leichteren Dialektik und einer ziemlich oberflächlichen Ironie gern recht hoch ausbringen möchte. Indes kommt es darauf an, wieviel folgende Gründe vermögen, um diesen Verdacht zu beseitigen. Zuerst ist das dialektische Übungsstück, welches der »Euthyphron« enthält, wenn gleich nicht so umfassend als das im »Charmides« aufgestellte, doch nicht minder sowohl ein natürlicher Auswuchs des »Protagoras« als eine eigne Annäherung und Vorbereitung zum »Parmenides«. Dies gilt besonders von der Entwickelung des Unterschiedes zwischen dem, was das Wesen eines Begriffs, und dem, was nur eines seiner Verhältnisse bezeichnet, und von der Ableitung des Sprachgebrauches, den Platon in der Folge zur Bezeichnung dieses Unterschiedes durchgängig beobachtet. Ferner verschwindet in den übrigen Platonischen Werken der Begriff der Frömmigkeit aus der Reihe der Vier Haupttugenden, denen er im »Protagoras« noch beigesellt ist, auf eine solche Art, daß ein eigner Wink darüber ganz notwendig ist, und wenn er sich nicht fände, als verloren gegangen müßte vorausgesetzt werden. Zwar enthalten spätere Gespräche einzelne positive Äußerungen über das Wesen der Frömmigkeit und ihr Verhältnis zu jenen Tugenden; aber das versteckte geht ja überall bei unserm Schriftsteller dem offenen und unverhohlenen voran; und eben jene Äußerungen schließen sich unmittelbar an das bloß verneinende Resultat des »Euthyphron«. Endlich muß man hinzunehmen, daß dieses Gespräch unstreitig zwischen der Anklage und der Verurteilung des Sokrates geschrieben ist, und daß sich unter diesen Umständen fast unvermeidlich für den Platon zu dem Zweck den Begriff der Frömmigkeit dialektisch zu erörtern der andere gesellen mußte, den über eben diesen Gegenstand angeklagten Lehrer auf die ihm eigene Art zu verteidigen. Ja es konnte je dringender die Umstände waren um desto leichter diese apologetische Absicht die ursprüngliche ethisch dialektische so weit verschlingen, daß Platon darüber verabsäumte, der skeptischen Behandlung nach gewohnter Weise auslegende Winke beizumischen, ohne daß man dennoch sagen könnte, er sei sich selbst untreu geworden oder habe sich gänzlich verläugnet. So erklären sich bei dieser unläugbaren Verflechtung der Absichten aus dem Drang des Bestrebens, soviel nur irgend möglich, die gemeinen Begriffe in ihrer Blöße darzustellen, und aus der Eilfertigkeit der Abfassung, wie es scheint, die gerügten und nicht abzuläugnenden Mängel des kleinen Werkes wenigstens so weit, daß, da wir keine Spuren haben von einem Sokratiker, der so platonisch noch als dieses ist, komponiert und geschrieben hätte, und in die späteren Zeiten eigentlicher Nachahmer die Schrift wohl nicht zu setzen ist, ich noch immer nicht wage das Verdammungsurteil über sie entscheidend auszusprechen.
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