Die seelische Rückwirkung auf die Massen bleibt nicht aus. Sie sagen sich: »Unsere Herren sind nichts wert.« Schließlich wird die verhaßte Geldaristokratie gestürzt, die Demokratie (Volksherrschaft) tritt an ihre Stelle. Doch in ihr wirkt nun die vom Kapitalismus großgezogene Profitsucht weiter. Nichts gilt mehr als das materielle Interesse, alles andere erscheint dumm oder lächerlich. Es entsteht ein Kampf aller gegen alle (Marx: ein »allseitiger Kampf von Mann gegen Mann«). Sitte, Religion, Rechtschaffenheit sind außer Kurs gesetzt, in tierischem Genuß »nach Art des Viehs« lebt man dahin. Bis endlich in diesem Kampf, in dem ruinierte Nichtstuer sich oft schlau zu Führern der arbeitenden Massen emporschwingen, der Rücksichtsloseste und Stärkste siegt, die größte »Freiheit« in die schlimmste Knechtschaft, die Gewaltherrschaft eines Tyrannen umschlägt.
Was soll nun geschehen, um diesen »Fieberzustand« des Staates zu heilen? Mit kleinen Hilfsmitteln, die sich auf dem Boden der bestehenden Ordnung bewegen, ist es nach Plato nicht getan; sie gleichen dem Probieren von immer neuen Kuren, die in Wirklichkeit die tiefsitzende Krankheit des Patienten bloß mannigfaltiger machen. Es bedarf vielmehr einer Radikalkur , die auch vor dem »Brennen und Schneiden« des Gesellschaftskörpers nicht zurückscheut. Alle die schönen und nützlichen Dinge, mit denen die »großen« Führer der Demokratie, ein Themistokles und Perikles, Athen ausgerüstet: Tempel und Theater, Werften und Häfen, Flotte und Heer, ausgedehnte Festungswerke usw., können einen Staat nicht groß machen, wenn es an der inneren Einheit und Tüchtigkeit der Bürger fehlt. Eine von Grund auf veränderte Erziehung ist vonnöten, Erziehung zu einer völlig neuen Gesellschaftsordnung. So wird bei Plato die Pädagogik, wie überall, wo sie einen wahrhaft großen Zug genommen hat (Pestalozzi, Fichte, Natorp), aus einer Individual- zur Sozialpädagogik : Erziehung nicht durch einzelne, wie die Sophisten meinten, sondern durch die neue Gesellschaftsordnung selbst.
Diese neue Erziehung, die einen wesentlichen Teil der »Republik« ausmacht, wird nun allerdings von unserem Philosophen zunächst nur für die regierenden Klassen des neuen Staates gefordert. Das hängt mit den allgemeinen und besonders wieder mit den psychologischen, von uns schon oben (Seite 37) angedeuteten, freilich wohl auch den politisch-aristokratischen Grundanschauungen unseres Denkers zusammen. Da der Staat das im großen, was der Einzelmensch im kleinen ist, nämlich ein in sich zusammenhängender Organismus, so entsprechen die drei Grundschichten der Gesellschaft den drei Grundtätigkeiten der menschlichen Seele. Ihrem »begehrlichen« Teil, den sinnlichen Trieben entspricht im Staatswesen der größte Teil des Volkes, die Masse derer, welche für die notwendigen wirtschaftlichen Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Wohnung, Hausrat usw.) des Ganzen sorgen, also die Bauern, Handwerker und Kaufleute. Dem »Mutartigen« oder der Willenskraft der Einzelseele entsprechen politisch die »Wächter« oder »Hüter«, die den Bestand des Staates nach außen durch die Abwehr feindlicher Angriffe, nach innen durch die Durchführung der neuen Gesetze sichern, also unseren Heeresangehörigen und Beamten vergleichbar sind. Der Vernunftkraft des einzelnen endlich entspricht diejenige Schicht, der Plato die oberste Leitung der Gesetzgebung und vor allem des Wichtigsten, der Erziehung anvertrauen will: die Philosophen. Die Haupttugend des ersten oder Nährstandes ist die Selbstbeherrschung oder Besonnenheit, welche die Triebe zügelt, die des zweiten oder Wehrstandes die Mannhaftigkeit, die des obersten oder Lehrstandes die Weisheit. Über sie alle ragt, als sie alle beherrschende und umfassende, die Gerechtigkeit , die jedem das Seine gibt, empor. So finden wir in dem Aufbau des neuen Sozialstaates sowohl die psychologischen wie die ethischen Grundzüge der platonischen Philosophie wieder.
Für die erwerbende Masse, die »Lohngeber und Ernährer« der beiden anderen Stände, zu denen übrigens die Tüchtigeren unter ihnen emporsteigen können, bleiben Privateigentum und Sonderfamilie bestehen. Sie sind nicht bloß Bürger, sondern auch »Freunde«, ja Brüder der anderen, von denen sie geschützt und gefördert werden. Die neue Erziehung dagegen wird vorläufig nur den beiden oberen Ständen zuteil. Schon vor deren Geburt ist der Staat für die Tüchtigkeit seiner künftigen Erhalter und Leiter besorgt. Die tüchtigsten und kräftigsten Männer sollen sich mit den besten und edelsten Frauen verbinden. Nach den ersten drei Jahren vorherrschend leiblicher Pflege soll die von jetzt ab gemeinsame Erziehung, um harmonische Menschen heranzubilden, in gleichem Maße auf die körperliche wie auf die geistige Ausbildung gerichtet sein. Die erstere war ja im alten Griechenland sowieso zu Hause; ich brauche nur an die Worte Gymnastik und Gymnasium (griechisch Gymnasion, eigentlich eine Stätte, wo man unbekleidet oder leichtbekleidet turnt) zu erinnern. Sie soll auch bei Plato, durch die verschiedenen Altersstufen hindurch in verschiedenem Maß, gepflegt werden. Die geistige Ausbildung geschieht zunächst, dem frühen Kindesalter gemäß, durch Erzählungen aus der Märchen- und Sagenwelt, aus denen jedoch alle unsittlichen, der Götter oder Helden unwürdigen Züge, auch zum Beispiel Schilderungen angeblicher Schrecknisse in der Unterwelt (beim Christentum Hölle) zu verbannen sind. Dann folgt Lese- und Schreibunterricht. Der begeisterungsfähigen Jugend von vierzehn bis sechzehn Jahren werden vor allem Gedichte, namentlich lyrische (Lieder), und die damit verwandte Musik, unter Ausschaltung alles Üppigen und Weichlichen, Leidenschaftlichen und Zweideutigen, als seelische Kost geboten; dem angehenden Jünglingsalter vom sechzehnten bis achtzehnten Jahre die ernsteren mathematischen Wissenschaften, einschließlich Physik und Astronomie. Nur die auf das wahrhaft Gute und Schöne gerichtete Kunst soll zugelassen sein, damit eine ernste, sittliche Gesinnung, eine reine und hohe Gottesvorstellung, eine mutvolle Verachtung des Todes und der vergänglichen Güter des Lebens in den jungen Seelen erzeugt wird. Auch das weibliche Geschlecht soll an dieser Erziehung teilnehmen. Plato ist einer der frühesten Vertreter der Frauenemanzipation (das heißt Befreiung des weiblichen Geschlechts aus seiner Sklaverei). Er meint, daß die beiden Geschlechter nur im Grad, nicht in der Art ihrer Kräfte verschieden seien. Deshalb sollen die Mädchen und Frauen auch an den gymnastischen Übungen, gegebenenfalls sogar am Kriege teilnehmen; nur sollen ihnen dabei die leichteren Beschäftigungen zugewiesen werden.
Nach Beendigung des Kursus in Musik und Mathematik erhalten sodann die Achtzehnjährigen, ähnlich wie bis vor kurzem bei uns, eine zweijährige militärische Ausbildung. Darauf tritt eine erste Auslese ein. Die wissenschaftlich weniger Begabten verbleiben im Stande der »Hüter«; die übrigen betreiben fortan die Wissenschaften eingehender und in mehr systematischer Form, etwa wie auf unseren Universitäten. Danach erfolgt eine zweite Auslese: die minder Vorzüglichen gehen nun zu allerlei praktischen Staatsämtern über; die Begabtesten aber widmen sich noch fünf weitere Jahre der Erkenntnis des Seienden (Ideenlehre), um sodann ihrerseits höhere Regierungsämter zu übernehmen. Falls sie sich in diesen fünfzehn Jahren bewähren, sind sie mit fünfzig Jahren reif, unter die Zahl der »Herrschenden« oder Philosophen aufgenommen zu werden. Ihr Beruf ist von jetzt an die Gesetzgebung und die Überwachung von deren Ausführung. Die von ihrem jeweiligen Amte, zu dem das Los sie beruft, freie Zeit widmen sie weiterer philosophischer Vertiefung.
Damit nun die beiden regierenden Stände, die Philosophen und die Hüter, durch keine persönlichen Interessen an der Hingabe für das Ganze gehindert werden, soll keiner von ihnen eigenes Vermögen besitzen: weder Gold und Silber, noch eine eigene Wohnung, noch Vorratskammern, in die nicht jeder gehen könnte. Den nötigen Lebensunterhalt empfangen sie in bestimmter Ordnung von den Bürgern der erwerbenden Stände in der Weise, daß sie keinerlei Mangel leiden, indes auch nichts für das nächste Jahr übrig behalten. Sie wohnen und speisen gemeinschaftlich. Ebenso sind ihnen auch die Frauen und Kinder gemeinsam, so daß weder ein Vater das eigene Kind kennt, noch das Kind den Vater. Alle bilden eben eine große Familie; teilen soweit wie möglich Freuden und Schmerzen miteinander. Erst ein solcher Zustand, in dem niemand mehr etwas sein eigen nennt als seinen Leib, wird die Befreiung von aller Zwietracht bringen sowie von allen Rechtshändeln, die jetzt um den Besitz irdischer Güter unter den Menschen entbrennen.
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