Holger Hanowell
Reclam
Für Roman. Auf seiner Gospel Road.
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961960-6
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20581-5
www.reclam.de
Mit der Stimme von Johnny Cash bin ich groß geworden. Ich sammelte Schallplatten des Sängers, allerdings ausgerechnet, als das Sternbild des ›Man in Black‹ bereits fast völlig hinter dem Horizont verschwunden war. In den 1980er Jahren hatte ich es nicht leicht, denn wer hörte damals im Alter von 12 oder 14 Jahren schon Country? Also gab es nur zwei Möglichkeiten: entweder den Musikgeschmack zu verschweigen oder offen zu bekennen, dass sich Johnny-Cash-Scheiben auf meinem Plattenteller drehten, selbst auf die Gefahr hin, vor Scham im Boden zu versinken. Eine Szene wie in Cashs »A Boy Named Sue«?: »Some girls giggled and I turned red.«
Damals waren New Wave, Neue Deutsche Welle oder New Romantic angesagt. Vereinzelt traf man auf Punks. Man identifizierte sich aber vor allem über seine Stars in den Charts: Als junger Cash-Fan stand ich also auf verlorenem Posten, denn Johnny Cash tauchte überhaupt nicht mehr in den Charts auf. Für die Musikkritiker oder Radiosender existierte er allenfalls am Rande als betagte, angestaubte Legende.
1983 verfolgte ich Cashs Aufritt bei Wetten dass , für viele ein Desaster. Ich bekam die Häme meiner Klassenkameraden zu spüren: »Was, den findest du gut?« Aus der Rückschau trägt er die Songs an sich ganz ordentlich vor, schlimm nur der Part, als er lang und weitschweifig erklärt – und das in furchtbarem Deutsch –, dass seine Frau zusammengebrochen sei, die am Abend eigentlich mit ihm hätte auftreten sollen (auch Talkmaster Frank Elstner war überrascht). In Erinnerung bleibt der auf Deutsch radebrechende Cash, der schließlich nach dem zweiten Song theatralisch auf die Knie sinkt, als er sich beim deutschen Publikum bedankt. Stand er unter Einfluss von Amphetaminen, Schmerztabletten oder Alkohol? Die Wahrheit liegt wohl irgendwo in der Mitte.
Unabhängig vom Wetten dass -Auftritt war es in Deutschland unter jungen Leuten einfach nicht cool, Country zu hören. Diese Musikrichtung wurde 1 zu 1 mit Schlagern oder Volksmusik gleichgesetzt, Country war Festzeltfrohsinn, Strass, übergroße Hüte wie der von Tom Astor oder höchstens noch die deutschsprachig singende Band Truck Stop.
Zehn Jahre können im Musikgeschäft einen gewaltigen Unterschied ausmachen. 1994 feierte Johnny Cash sein Comeback auf Rick Rubins Label American Recordings, und endlich wurde dem Sänger mit der markanten Stimme wieder die Aufmerksamkeit zuteil, die er als Künstler verdiente. Rückblickend wäre es sicher cooler gewesen, Mitte der 1990er Jahre bekennender Cash-Fan zu sein (spätestens seit dem Video »Delia’s Gone« mit dem Supermodel Kate Moss als hingemordete Frau in offener Grube auf sturmumtostem Friedhof lag ihm die noch junge MTV-Gemeinde zu Füßen). Aber ich hatte durchgehalten, hatte während der langen Durststrecke des Künstlers weiter Platten gesammelt und wurde am Ende belohnt: Alle Welt hörte plötzlich wieder Johnny Cash. Es war cool, über die Alben zu philosophieren, die Rick Rubin produzierte. Cool auch die schwarz-weiß gehaltenen Cover, die mit dem Stempel CASH daherkamen – fort war der Johnny.
Auch wer also erst 1994 auf den ›Man in Black‹ aufmerksam wurde und sich dem Spätwerk näherte, kam auf seine Kosten. Denn alle Alben der American -Reihe sind grandios produziert und bieten wunderbare Songs. Die eindrucksvollen Coverversionen hätte man dem Altstar womöglich gar nicht mehr zugetraut. Hand aufs Herz, wer hätte schließlich gedacht, dass Cash »Rusty Cage« von Soundgarden, »Personal Jesus« von Depeche Mode oder »Hurt« von Nine Inch Nails singen könnte?
Wie hätten wohl Elvis, Jim Morrison oder Kurt Cobain im Alter geklungen? Was für Material hätten Künstler wie Jimi Hendrix oder Janis Joplin mit 60 oder 70 ausgewählt? Im Fall von Johnny Cash weiß man es: Die Stimme war über die Jahre tiefer und ausdrucksstärker geworden, aber auch brüchiger.
Wie kaum ein anderer Künstler reifte Cash im Alter wie ein guter Wein.
»A new sun risin' on the way we sing«: Der Weg zu Sun Records in Memphis
Johnny Cash kommt am 26. Februar 1932 im ländlichen Arkansas in ärmlichen Verhältnissen zur Welt, als viertes von insgesamt sieben Kindern. Schon früh arbeitet J. R., wie er zu Hause genannt wird, mit seinen Geschwistern auf den Baumwollfeldern, die der Vater im Zuge eines staatlichen Hilfsprogramms nach der Großen Depression im Dyess County gepachtet hatte (gemeinsamer Gesang bei der Feldarbeit und am Abend das Radio halten am Leben). Nach dem Besuch der High School hat Cash keine genauen Berufsvorstellungen, nimmt Gelegenheitsjobs an und meldet sich schließlich 1950 zu Beginn des Koreakriegs freiwillig bei der Air Force. Von Oktober 1951 bis Juni 1954 leistet er seinen Militärdienst in Deutschland, ist auf einem Fliegerhorst bei Landsberg/Lech in Bayern stationiert und überwacht als Abhörspezialist den Funkverkehr der sowjetischen Luftwaffe. Bereits dort ›jammt‹ er mit Kameraden, den ›Landsberg Barbarians‹. Für fünf Dollar kauft er sich eine Gitarre, schreibt Songtexte und träumt davon, eines Tages im Radio singen zu können. Für ihn ist Musik immer schon wie die Luft zum Atmen gewesen. Seine Mutter Carrie war sehr musikalisch, sie spielte Klavier, hatte ihrem Sohn die erste Gitarre gekauft und ihn ermuntert, weiter zu singen.
Johnny Cash ist ein Kind der Südstaaten. Sein Musikgeschmack ist von klein auf von Countrymusik geprägt, schon als Junge hat er über das Radio Countrysänger wie Roy Acuff, Ernest Tubb oder Hank Williams gehört, aber auch Bing Crosby, die Andrew Sisters und die Gospelsängerin und Gitarristin Sister Rosetta Tharpe.
Cashs musikalische Karriere beginnt dann aber nicht in Nashville, der Herzkammer der Countrymusik, sondern in Memphis, genauer gesagt: auf der Union Avenue im legendären Sun Studio, das Sam Phillips (1923–2003) gehört. Der Produzent Phillips hat mit schwarzen Rhythm & Blues Musikern wie Howlin’ Wolf oder B. B. King gearbeitet – in den Südstaaten für einen weißen Plattenboss nicht selbstverständlich –, ehe ihm 1954 mit dem neunzehnjährigen Elvis Presley ein ganz besonderer Fisch ins Netz geht. Phillips hat ein Gespür für junge Talente. Im Juli 1954 erscheint Presleys erste Single »That’s All Right«, die die Karriere dieses Ausnahmekünstlers einläutet. Nach und nach geben sich junge, aufstrebende Sänger und Musiker in Phillips’ Studio die Klinke in die Hand, neben Johnny Cash Carl Perkins, Roy Orbison, Jerry Lee Lewis, Billy Lee Riley, Charlie Rich oder der etwas unbekanntere, gleichwohl einflussreiche Charlie Feathers.
»All of us ran through when Elvis opened up the door«
aus: »I will Rock and Roll with You«
Jerry Lee Lewis, Carl Perkins, Elvis und Johnny Cash in den Sun Records Studios (v.l.n.r.)
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